kür . 45 ° 7 . Aug . 1897 . 8 - Em Urtheil über derr Protestantismus . ll . 8 . Zu dem hochgelehrten , bis jetzt auf zwei statt¬ liche Bände gedichenen Werke des Präger Universitüts - professors Dr . Otto Willmann „ Geschichte des Idealis¬ mus " ( Braunschweig , Bicweg u . Sohn , 1896 ) finden wir Band II , 574 ein Urtheil über die „ evangelische " Kirche , das wir der Oeffentlichkeit unterbreiten möchten . Der Gelehrte schreibt dort im Anschluß an die „ Verdienste " des „ Reformators " Wycleff um die Philosophie : Der Protestantismus kehrt auf allen Gebieten seine Spitze gegen die Mittelglieder . Er will auf der Bibel fußen , aber er verwirft die Autorität der Kirche , welche insofern vermittelnd zwischen den einzelnen Gläub¬ igen und der Schrift steht , als sie die Glanbcnssubstanz auf Grund dieser fixirt und mit der lebendigen Tradition umkleidet ; er will am Christenglauben festhalten , aber nennt alles , was aus diesem organisch im geschichtlichen Leben der Kirche erwachsen ist , hinzngekommenes Menschen¬ werk ; er sucht in der gläubigen Gesinnung die christliche Vollkommenheit , verwirft aber die Werke und die mit ihnen zusammenhängende äußere Gestalt , welche sich jene Gesinnung gegeben hat und welche die Vermittelung ihrer immer neuen Erzeugung bildet ; er will die apostolische Christengemeinde erneuern , indem er die historischen Ver¬ mittelungen überspringt , durch welche die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammenhängt ; er will die christliche Gemeinde , aber er schreckt davor zurück , ihr Princip als Gesetz zu fassen ; er fordert die Nachfolge Christi , aber er verwirft die Vorbilder des Wandels , welche uns die Heiligen , diese lebendigen Früchte der Erlösung , vorzeichnen ; seine Theologie ist wesentlich Schrifterklärnng , aber es ist ihr verwehrt , autoritative Erklärungen aufzustellen ; sie geht auf den Offenbarnngsgehalt der Schrift aus , aber sie läßt deren Weisheitsgehalt , der das Bindeglied zwischen ihr und der Theologie - bildet , ungenutzt . Mit dieser Verwerfung der Mittelglieder ist aber eine Abwendung von der idealen Grund - anschauung gegeben ; die Begriffe des Gesetzes , des Vorbildes , der organischen Ausweichung sind , wenn sie auf dem Gebiete des Glaubens preisgegeben werden , auch für die Speculation verloren . Man pflegt nun zwar Luther einen Idealisten zu nennen , weil er eine unsichtbare Kirche an Stelle der sichtbaren gesetzt und den Realismus der Werkheiligkeit bekämpft habe ; aber es ist nicht jede Ansicht Idealismus , welche die Wirklichkeit überfliegt und das Innere dem Aeußern gegenüber stellt . Die ideale Weltanschauung beruht darauf , daß , wie ihr Name es sagt , die Welt ideal angeschaut wird , also im Sichtbaren das Unsichtbare erkannt , in der Auswirkung das Gedankliche verfolgt , das Außen durchsichtig gemacht wird für das Innen . Der Idealismus überfliegt aber nicht das Reale und snbjectivirt nicht das Aenßere , son¬ dern läßt sich durch die Dinge zum Jntellegiblen in ihnen und über ihnen leiten und kann darum ebensogut Rea¬ lismus heißen . Der aus der Weisheit der Schrift er¬ wachsene Idealismus kennt die Gefahren jenes Ueber - fliegens und dieses Subjektivirens , die zu monistischen und nominalistischen Ansichten führen müssen . Nur bei ihm sind die idealen Principien , als bei ihrem berufenen Hüter , hinterlegt . Von einem andern Gesichtspunkte aus schreibt Will - mann später ( y . 633 ) weiter : Die mannigfachste Forderung erhielt die nomlnalist - ische Gesellschaftsauffassung durch den Protestantis¬ mus . Zwar drängten die theologischen Fragen , welche die Glanbensnenernng in den Vordergrund stellte , das politische und sociale Interesse zurück , aber der Umsturz der alten Ordnung machte es unerläßlich , auf Principien für eine neue Bedacht zu nehmen . Von Luther selbst sagt Erdmann ( „ Grundriß der Philosophie " ) : „ Der mystische Zug in seinem Wesen läßt ihn oft diese Fragen , als den äußern Menschen betreffend , in einer Weise be¬ handeln , die es erklärlich machte , daß der wcltverachtende Jacob Böhme so vieles ihm entlehnen konnte , und wieder läßt der tiefe Respekt vor der von Gott eingesetzten Obrigkeit ihn Aeußerungen thun , welche Staatsvergöttcrer mit Freuden citirt haben ; dies ist einmal das Loos in sich reicher Naturen , die nicht Eines sind , sondern viel . " Der Widerspruch liegt nun nicht in dem Ueberreichthnm der Naturen , sondern in der Sache : der Abfall von der Kirche war ein Akt des Individualismus , der sich über jede menschliche Gemeinschaft hinaussetzte , dagegen der Kampf mit der Kirche machte die Bundesgenosscnschaft des ihr entfremdeten Staates nöthig ; ein und dieselbe That war die Quelle der Staatsvcrachtnug und der Staatsvergötternng . Mit der Zerstörung des christlichen Rechtes mußten alle Rechtsbegriffe ins Schwanken kommen . Wie die Neuerer stenerlos auf den Wogen der Zeit trieben , zeigt Melanchthon : „ Er stellte 1523 den Grund¬ satz auf , daß der Fürst seine Gewalt vom Volke habe , und daß er gegen den Willen seiner Landschaft nichts unternehmen dürfe ; freilich im Angesichte der Schrecknisse des Bauernkrieges neigte er sich wieder mehr zur Theorie von dem unbedingten Gehorsam gegen die Obrigkeit , gab aber diese später wieder auf , durch bittere Erfahrungen über die Nichtigkeit der Behauptung von der fürstlichen Uutrüglichkeit zur Genüge aufgeklärt . " ( Kaltenborn , Die Vorläufer des H . Grotius , 1848 , p . 216 . ) Von den beiden Grundformen , in denen die Glaubcns - neuerung im XVI . Jahrhundert auftritt , bringt der Cal¬ vinismus mehr das individualistische Element zur Geltung , während das Lutherthum und der ihm nahestehende Anglikanismns mehr das Staatskirchenthnm entwickelt . Die Theorie vom „ Gesellschaftsvertrag " ( Rousseau ) ist calvinistischcn Ursprungs , der „ Lcviathan " ( Hobbes ) ein Erzeugniß der andern Denkweise , beides Hauptleistnngen der nominalistischen Gesellschaftslehre dieser Richtung . Das Materialprincip des Protestantismus , dke Lehre , daß der Glaube allein selig macht , verweist die Werke , das Gesetz , die Lebensordnung in die Sphäre des rein Aeußerlichen ; es löst den innern Zusammen¬ hang von Religion und Sittlichkeit und schneidet der Socialethik den Nerv durch . Mit der Leugnnng des Gesetzes Christi und der Kirche schwindet auch das Ver¬ ständniß für die Vollendung des alttestamentlichen Gesetzes durch das Evangelium ; bei dieser saxuratio Isgis ob evauAetü bleibt als Basis des Rechts der Dekalog allein übrig ; die Gesellschaftslehre wird angewiesen , ihre Prin¬ cipien aus der Vorhalle und den Außenwerken des Glaubens zu entnehmen . — Nicht minder tief schneidet das Formal Princip des Protestantismus ein : die Lehre von der Sufficienz der Schrift und die Ver¬ werfung der Tradition . Mit der letzteren fällt zugleich die Geschichte der Kirche uud das christliche Ethos : die |