Ueber
die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang
mit dem Sprachbau.
Von
H rn - WILHELM von HUMBOLDT.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 20. Mai 1824.]
Üjs hat mir bei dem Nachdenken über den Zusammenhang der Buch-stabenschrift mit der Sprache immer geschienen, als wenn die ersterein genauem Verhältnifs mit den Vorzügen der letzteren stände, und alswenn die Annahme und Bearbeitung des Alphabets, ja selbst die Artund vielleicht auch die Erfindung desselben, von dem Grade der Voll-kommenheit der Sprache, und noch ursprünglicher, der Sprachanlagenjeder Nation abhinge.
Anhaltende Beschäftigung mit den Amerikanischen Sprachen, Stu-dium der Alt - Indischen und einiger mit ihr verwandten, und die Be-trachtung des Baues der Chinesischen schienen mir diesen Satz auch ge-schichtlich zu bestätigen. Die Amerikanischen Sprachen, die man zwarsehr mit Unrecht mit dem Namen roher und wilder bezeichnen würde,die aber ihr Bau doch bestimmt von den vollkommen gebildeten unter-scheidet, haben, soviel wir bis jetzt wissen, nie Buchstabenschrift be-sessen. Mit den Semitischen und der Indischen ist diese so innig ver-wachsen, dafs auch nicht die entfernteste Spur vorhanden ist, dafs siesich jemals einer anderen bedient hätten. Wenn die Chinesen beharr-lich die ihnen seit so langer Zeit bekannten Alphabete der Europäerzurückstofsen, so liegt dies, meines Erachtens, bei weitem nicht blofsin ihrer Anhänglichkeit am Hergebrachten, und ihrer Abneigung gegendas Fremde, sondern viel mehr darin, dafs, nach dem Mafs ihrer Sprach-anlagen, und nach dem Bau ihrer Sprache, noch gar nicht das innereBedürfnifs nach einer Buchstabenschrift in ihnen erwacht ist. Wäredies nicht der Fall, so würden sie durch ihre eigene, ihnen in hohemBist, philol. Klasse 1824. X