— 71 —
sache mag auf den ersten Blick befremden bei der Un-gunst der geographischen Lage Mittelrufslands für den Be-zug amerikanischer Baumwolle. Man hat daher von Seitender älteren Freihändler die Baumwollindustrie für eine „un-natürliche" Pflanze auf russischem Boden erklärt.
Sehr zu unrecht. Schon die naive Freude des russischenVolkes an der Farbe kam der Baumwollenindustrie entgegen,welche die farbenprächtigen Surrogate für Seide schafft h Farbeund Licht ist der erste Eindruck, den der Westeuropäer schonbeim Betreten Moskaus empfängt und den er in gleicherStärke südlich erst in Neapel und Palermo wiederfindet.
Ein anderer Gesichtspunkt ist wichtiger: noch auf langehinaus sind die Massen des russischen Volkes zu arm, um beigeldwirtschaftlicher Beschaffung ihres Kleidungsbedarfes andereGewebe als Baumwollgewebe zu kaufen. Aus gleichem Grundewar der englische Arbeiter in der ersten Hälfte unseres Jahr-hunderts so ausschliefslich mit Baumwolle bekleidet, dafs derName dieses Stoffes „Fustian " geradezu die Bezeichnung fürden Arbeiter selbst wurde. Die Armut der Bauern ist nochheute das Haupthindernis, das einer breiteren Entwicklungsogar der russischen Baumwollindustrie entgegensteht.
Infolge der Billigkeit ihrer Produkte schiebt sich zuerstdie Baumwollindustrie trennend ein zwischen die Person desKonsumenten und des Produzenten und unterwirft so arme,der Naturalwirtschaft noch nahestehende Märkte: Kufsland,Indien, Mittelasien . Diese Billigkeit ihrer Produkte hat inletzter Linie wirtschaftsgeschichtliche Gründe: ein Kind desHandels, wurde die Baumwolle am frühesten in Roherzeugung,wie Verarbeitung dem Prinzipe des gröfstmöglichen Gewinnes,
„Fabriken" mit Handbetrieb fällen für mich unter die Bezeichnung„Manufaktur". Verschiedene Terminologie war hier der Anlafs zu viel-facher sachlicher Verwirrung.
1 Nach Bücher ist die Grofsindustrie anfänglich oft Surrogat-industrie. Vergl. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band III,S. 944.