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Gefühl und Leidenschaft entledigen dürfte: niemand darf wohl-thätig sein auf fremde Rechnung.
Deshalb scheint es mir richtig, auch hier die Interessen-frage in den Vordergrund zu rücken. Mag die Interessen-gemeinschaft aller Völker, wie sie R. Cobden lehrte, auf langehinaus ein schöner Traum sein, so giebt es zweifellos Fälleeines weitgehenden Interessenparallelismus einzelner Nationen —der, wo vorhanden, die aufrichtigste und sicherste Grundlagegegenseitigen Verständnisses ist.
Deutschland hat kein Interesse, so scheint mir, das derpolitischen und wirtschaftlichen Machtentfaltung des Zaren-reiches gegensätzlich wäre. Es liegt kein Grund vor, wes-wegen wir von der freundnachbarlichen Neutralität abgehensollten, mit welcher wir Rufsland während des Krimkriegesund der polnischen Revolutionen die wesentlichsten Diensteleisteten. Ja, es können Gründe vorliegen, Rufsland wirt-schaftlich weiter zu fördern, sowie z. B. die Berliner Termin-börse zur Zeit des letzten Orientkrieges dem Rubel als Fall-schirm diente, Deutschland als einziger Markt damals russische Papieranleihen aufnahm, und bald darauf den von England Afghanistans wegen abgestofsenen russischen Werten eineHeimstätte bot.
Zur Begründung dieses Satzes kommen folgende Gesichts-punkte in Betracht.
So hoch wir immer die Fortschritte anschlagen, welcheRufsland neuerdings gemacht hat, so besteht heute dochnicht die Gefahr einer russischen, sondern eher die einerangelsächsischen Weltherrschaft. Gerade in England ist dasIdeal Cobdens mehr als anderswo verblafst: der Gedankeeiner Gemeinschaft gleichberechtigter Nationen und die Ent-fernung politischer Herrschaftseinflüsse aus den Wirtschafts-beziehungen der Welt. Leitende Staatsmänner Englands sprechen von der „einen, alles verschlingenden Rasse", vonder „Abdankung der mittleren Staaten". Was natürlicher alsein Zusammenstehen der „Mittleren"?
Insbesondere ist England heute noch weit entfernt, dendeutschen Mitbewerb als gleich natürliche Thatsache hin-