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die natürlichen Neigungen des Deutschen zum Westen ihrGegengewicht finden in der Kenntnis und Würdigung dergrofsartigen Entwicklung, die sich in unserm Osten vollzieht.
Englische Neigungen beruhen bei uns vielfach nicht aufbewufster Interessenerwägung, sondern auf kosmopolitischenStimmungen, wie sie als Erbstück der grofsen Freihandels-apostel die besten Engländer noch heute beseelen. Jenseitsdes Kanals sind diese internationalen Ideale ungefährlich, weilsie mit der Idee der Weltherrschaft verknüpft sind, die ihrem,Wesen nach international ist: für den Engländer ist der „Fort-schritt der Menschheit" der Fortschritt Englands . So tragendiese internationalen Ideale sogar dazu bei, jene herrlichenationale Geschlossenheit zu fördern, welche wir an England bewundern. Dagegen lähmen dieselben Stimmungen die That-kraft und das Selbstgefühl derjenigen „mittleren" Nationen,welche sich eben nicht mit der „Menschheit " gleichsetzenkönnen.
Zwar liegt für Deutschland dieses Verhältnis nicht inaller Zukunft hoffnungslos fest. Der grofse Engländer, welcherdie deutsche Bildung am besten kannte, Thomas Carlyle , hatihre Überlegenheit stets anerkannt: im deutschen Idealismusfand er die höhere Versöhnung des gewohnheitsmäfsigenKirchentums und der utilitarischen Aufklärung, jener Disso-nanz, welche das englische Geistesleben durchzieht. Er wiesauf Kant und Goethe, als die beiden Riesengestalten, derenArbeit in gegenseitiger Ergänzung diese gröfste Aufgabe ge-löst habe.
Aber noch ist die Erkenntnis des eignen geistigen Wesensweit entfernt, Gemeingut der gebildeten Kreise Deutschlands zu sein. Noch weniger atmen eine Atmosphäre wahrhaftnationaler Kultur diejenigen Klassen, welche die neuere Ent-wicklung Deutschlands emporhebt: das Großkapital einer-seits, die obere Schicht des Arbeiterstandes andererseits —homines novi in der deutschen Geisteswelt. Noch sind dieKanäle ungebaut, welche den Stauweiher unserer geistigenVergangenheit mit dem Neulande des 20. Jahrhunderts ver-binden. Noch weniger verwirklicht sind die staatlichen Folge-
v. Schulze-Gaevernitz, Stud. a. Rufsl. 39