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ZWISCHEN NORDEN UND SÜDEN
Anwendung ihrer unbedingten Forderungen auf eine bedingte Welt mit sichselbst gerät? Jeder ehrlich erzählte Lebenslauf mag der Prüfung dieserFrage zugute kommen.
Wenn ich, nachdem ich das Alter des Psalmisten überschritten habe,meine Lebenserinnerungen niederschreibe, so möchte ich dies voraus-schicken: Wer auf ein nicht nur langes, sondern auch bewegtes Lebenzurückblickt, der weiß, daß Memoiren nur dann einen Wert haben, wennsie aufrichtig und innerlich wahr sind. Wenn der Autor sagt, was war, wenner berichtet, wie es zuging, wirklich zuging. Goethe hat einmal gesagt, daß,wer ein Blatt Papier vor sich und eine Feder in der Hand habe, getrost ansWerk gehen möge. Wenn er über seine Erlebnisse und Empfindungen dieWahrheit sage, könne er ein gutes, ja ein nützliches Buch schreiben. Ichtrete nicht vor den Leser mit den Worten, mit denen Jean-Jacques Bous-seau, seine „Confessions" in der Hand, vor den heben Gott treten wollte,wenn einst die Trompete des Jüngsten Gerichts erschallen sollte: „Voilä ceque j'ai fait, ce que j'ai pens6, ce que je fus. Bassemble autour de moil'innombrable foule de mes semblables; qu'ils ecoutent mes confessions,qu'ils rougissent de mes indignites, qu'ils gemissent de mes miseres. Quechaqun d'eux decouvre ä son tour son cceur au pied de ton trone avec lameme sincerite, et puis qu'un seul te dise, s'il l'ose: Je fus meilleur que cethomme lä." Ich begnüge mich mit dem Wort des Terenz, das den Beifalldes heiligen Augustinus fand: „Homo sum; humani nil a me alienum puto."Ich betrachte es als ein Glück, daß ich die ersten Eindrücke meinesKindheit in Lebens in Frankfurt a. M. empfing. Als der spätere Fmanzminister JohannesFrankfurt Miquel 1880 sein Amt als Oberbürgermeister von Frankfurt antrat, sagtea.M. i^jjj Kaisej-in Augusta in der ihr eigenen nachdenklichen und dabeigeistig feinen Art: „Frankfurt ist weder Norddeutschland noch Süddeutsch-land. Frankfurt ist eben Frankfurt ." Daß ich in der Stadt aufwuchs, wonorddeutsche und süddeutsche Art sich begegnen, die den Süden mit demNorden verbindet, hat mich von Kindesbeinen an gegen allen Partikula-rismus gefeit und es mir erleichtert, mich frühzeitig mit der Gesinnung zuerfüllen, in welcher der wackere, als ich ein Knabe war, noch lebende ErnstMoritz Arndt 1813 gesungen hat: „Das ganze Deutschland soll es sein!"In diesem Sinne faßte ich Jahrzehnte später, am 13. Januar 1902, im Preu-ßischen Abgeordnetenhaus mein politisches Glaubensbekenntnis in dieWorte zusammen: „Nach einseitigen Gesichtspunkten werde ich Ihnen diePolitik dieses Landes niemals zurechtschneiden. Ich werde Ihnen ebensowenig eine protestantisch-konfessionelle oder eine katholisch-konfessionellePolitik machen, wie ich Ihnen eine liberale oder eine konservative Partei-politik machen kann und will. Für mich als Ministerpräsidenten undBeichskanzler gibt es weder ein katholisches noch ein protestantisches,