Einzelmensch der kapitalistischen Weltperiode ist überaltert,der stärkere Gemeinschaftsmensch des sozialistischen Zeitaltersliegt noch in den Windeln.
Weltanschauliche Zersetzung ist die letzte Ursache des Nie-dergangs der abendländischen, kapitalistisch geprägten Welt.Diese Tatsache wird dem oberflächlichen Blick dadurch ver-schleiert, daß das Räderwerk menschlicher Motivation nochGenerationen hindurch fortläuft, auch wenn die treibendeKraft versagt. Zweifel an seinen eigenen Lebensinhalt be-schleicht den früher so robusten kapitalistischen Geist. Einst einfrugaler Arbeitsmensch, schielt er von seinem Kontorbock nachder Halbwelt des Rentnerstaates, wo die Herren Söhne bereitsin ihrer Art tätig sind. Wo das Geld dem Genuß dient, revol-tieren die vom Kapitalismus enterbten Massen, die den Luxusder Wenigen beneiden und für sich fordern. Ein solcher Kapi-talismus ist Restbestand überalterter Kultur — ein ablaufendesRäderwerk, das auf dem Schrotthaufen endet.
Ohne ein neues Ethos nimmt der Zerfall der kapita-listischen Gesellschaftsordnung, der Niedergang desAbendlandes seinen unentrinnbarenVerlauf.Mankannsich diesen Verlauf in zwiefacher Richtung vorstellen, entwederals allmähliche Vergreisung bis zur Versteinerung oderals jähen Zusammenbruch durch gewaltsamen Anstoß vonaußen.
Im ersteren Falle führt der Weg durch Unglauben und Ich-sucht, über Geburtenschwund und Kulturschwund, über kör-perliche und seelische Entartung, über weltwirtschaftlicheSchrumpfung und autarke Absonderung auf die Sandbank po-litischer und kultureller Geschichtslosigkeit. Der Strom des Welt-geschehens braust an den sich ausschaltenden Völkern vorüber.Man kann sich dieses Bild ausmalen als Sicherung überkommenerEinkommens- und Herrschaftsverhältnisse durch Großindustrieund großes Bodeneigentum (auch Zünftlertum, Großbauern-gut), die den Drang der Unterschicht nach Besitz und Scholleabdämmen — unter festliegender und niedergehender Lebens-haltung der breiten Masse. Es bedeutet dies einen Neufeudalis-
9 Schulze-Gaevernitz, Abendland
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