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Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland / von Gerhart v. Schulze-Gävernitz
Entstehung
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An die Stelle der gutsherrlichen Abgaben sind heute Ab-lösungs- und Steuerzahlungen getreten; um sie aufzubringen,ist der sonst naturalwirtschaftliche Bauer vielfach zur Fabrik-arbeit während des Winters gezwungen, als der einzigenQuelle des Gelderwerbs.

Diese gutsherrliche Hausindustrie war nicht ohne Ana-logien im Westen. So hat Brentano auf den gutsherrlichenCharakter der schlesischen Leinenindustrie hingewiesen x .Freilich fehlen auch die Unterschiede nicht. Der schlesischeAdel hatte das Recht zum Gewerbebetriebe auf Grund vonVerträgen seitens der Städte erworben, welche früher ein aus-schliefsliches Gewerberecht besafsen; der russische Adel da-gegen hatte ein thatsächliches Monopol des Gewerbebetriebes,weil er allein Leibeigene hatte, und weil Menschen fehlten,welche freiwillig dem Gewerbe sich hingegeben hätten.Schlesien hatte ein städtisches Mittelalter und erlebte ledig-lich eine wirtschaftliche Rückentwicklung, bedingt durch Ver-legung der Welthandelsstrafsen, den dreifsigj ährigen Kriegu. s. w.; in Rufsland fand die neuere Gewerbeentwicklungüberhaupt keine städtisch gewerbliche Anknüpfung vor.

In Rufsland allein auch konnte der gutsherrliche Gewei'be-betrieb seine Tendenzen voll entfalten. In Übertragung derverbesserten gewerblichen Technik Europas vereinigte derAdel die unfreie Arbeit in Werkstätten, und so entstand diegutsherrliche Fabrik, der wichtigste Ausgangspunkt des mo-dernen Gewerbebetriebes in Rufsland. Seit der Mitte vorigenJahrhunderts bis in die ersten Jahrzehnte des unsrigen über-traf die gutsherrliche Fabrik an Zahl und Bedeutung die vomStaate durch einheimische Kaufleute oder Ausländer ins Lebengerufenen privilegierten Betriebe.

Zu jedem wohleingerichteten Latifundium gehörte imvorigen Jahrhundert insbesondere eine Tuchmanufaktur. Oftsehr ausgedehnte Fabrikgebäude, die heute meist leer stehen,traf ich noch vielfach als Ruinen auf adligen Gütern.

1 Vergl. Brentano, Zeitschr. f. Social- u. WirtschaftsgeschichteBd. I S. 318 ff. Bd. II S. 235.