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1 (1930) Vom Staatssekretariat bis zur Marokkokrise
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DER ZAR UND DIE REVOLUTION

England und Frankreich ginge jenes Reformprogramm noch gar nicht weitgenug. Nachdem wir uns einige Zeit in so verständiger Weise unterhaltenund dabei eine weitgehende Ubereinstimmung zwischen unseren Anschau-ungen konstatiert hatten, gestand mir Lambsdorff, daß er sich recht ange-griffen und müde fühle. Ob ich es ihm übelnehmen würde, wenn er un petitsomme, einen kleinen Nicker machen sollte? Ich entgegnete ihm, daß esmich im Gegenteil freue, wenn er seine Kräfte schone und für bedeutsameAufgaben stärke. Auch sei ich kein Macbeth und würde seinen Schlaf,

den Balsam kranker Seelen,

den zweiten Gang im Gastmahl der Natur

das nährendste Gericht beim Fest des Lebens

sicherlich nicht morden. So schlief er eine gute Stunde vor meinen Augenim Lehnstuhl. Es fiel mir auf, wie bleich und abgespannt er im Schlafeaussah. Lambsdorff ist denn auch kaum drei Jahre später nach langerKränklichkeit in San Remo gestorben. Er war nicht der Mann, das russischeStaatsschiff durch die Brandung des japanischen Kriegs zu steuern. Ach,fünfzehn Jahre später sollte Deutschland in einer noch viel ernsteren undschwierigeren Lage in dem Reichskanzler Hertling einen ebenso verbrauch-ten und dabei schwerkranken Mann am Steuerruder des von Sturm undWellen hin und her geworfenen Schiffes sehen.

Kaiser Nikolaus sprach sich mir gegenüber ähnlich aus wie sein Minister.Der Zar und Er erklärte mir mit demselben Nachdruck wie in Peterhof, Heia und Reval,der Kaiser daß zwischen unseren Staaten keine konträren Interessen bestünden. EineBrouille zwischen uns würde nur unseren bittersten Feinden zugute kommen.Ce serait faire le jeu de la revolution." Die Furcht vor der Revolutionbeherrschte den Zaren so sehr, daß er mir als eine der wichtigsten Aufgabender konservativen Mächte die Notwendigkeit bezeichnete, die Stellung derMonarchie in Italien zu erleichtern, sie zu stützen und zu halten. Über dieitalienisch-französische Annäherung meinte Kaiser Nikolaus , daß nach denin Petersburg eingegangenen Nachrichten sie nicht so weit ginge, als diefranzösische Presse behaupte.

Wie immer vor Begegnungen mit ausländischen Souveränen hatte ichKaiser Wilhelm auch für die Entrevue in Wolfsgarten Abwarten, Diskre-tion und Vorsicht empfohlen. Ich erinnerte ihn an einen trefflichen Spruchunseres teuren Doktor Martin Luther , den ich ihm sogar aufschrieb:

Es gibt auf Erden kein größere List,Als wer seiner Zunge Meister ist.Viel denken, wenig sagen,Nicht antworten auf alle Fragen.