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Regentschaft und Anfänge Kvnig Wilhelms I.
und als die Kammer am 21. Januar 1859 eröffnet wurde, zähltendie beiden Grnppen des gemäßigten Liberalismus, die FraktionMathis uud die Fraktion Vincke (auch Wenzel-Schwerin genannt),zusammen etwa drei Fünftel der Mitglieder des Hanfes und be-strebten sich, der Regierung eine zuverlässige Stütze zu bieten. Diein der vorigen Legislaturperiode herrschende Fendalpartei erlagder Entrüstung des Volkes, sobald sie nicht mehr von der Regie-rung unterstützt wurde.
Dieses Zutrauen nach langem Druck, dieses Maßhalten derliberalen Hoffnungen ist eine überraschende Erscheinung. Nichtleicht wird man eine Analogie finden, nicht einmal in der Haltungdes italienischen Liberalismus. Es scheint dem Gesetz der Ent-wicklung zu widersprechen, daß nach so gewaltsamem Druck dieGegenbewegnng nicht auch gewaltsame Formen annahm. Aber mandarf daraus uicht schließen, daß der Druck weniger stark gewesensei; es erklärt sich daraus, daß von den „Errungenschaften von1848" trotz der gewaltsamen Reaktion doch viel erhalten gebliebenwar. Es sah in den deutscheu Staaten 1857 wesentlich anders ausals 1847. Viel altes Unrecht und Vorurteil war beseitigt, und inden Versassungen, besonders in der Reichsverfassung von 1849 undin der preußischen Verfassung, waren große Kreise von Vorstellungengeschaffen uud Begriffe ausgebildet worden, die zur Bewältiguugder politischen Aufgaben Hoffnung und Hilfe gaben. Die periodischePresse, die Zeitungen und Zeitschriften, waren von einer weitgrößeren Leistungsfähigkeit und von größerem Einfluß als vor1848. Die Reaktionszeit hatte zwar viele Zeitungen erstickt oderihre besten Kräfte gelähmt, aber der Gegensatz von Österreich undPreußen, die Wünsche der Mittelstaateu, der badische Kirchenstreit,der Kampf nm den Zollverein und andere Fragen hatten dieRegierungen selbst veranlaßt, die Zeitungen eifrig zu benutzen, unddas ging nicht, ohne sie zn unterstützen. Die Zahl der Männerendlich, die sich mit Ernst nnd Eifer an öffentlichen politischenAufgaben versucht hatten, war nicht klein, und die politische Einsichtwar dadurch erheblich gewachsen.
Diese Thatsachen erleichterten es den Liberalen, sich über denRückschlag zn trösten und in Geduld zu harren. Zwar zunächst