12 Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Um Vorstellungen und Gedanken zn fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machenund ihnen eine längere Tauer zu sichern, haben rohe Völker Kerbhölzer, Gürtel mitSchnüren, an denen verschiedenfarbige Muscheln befestigt sind, dann die Tätowierungangewandt. Die Inkas in Peru hatten eine Knoten-, die Azteken und Chinesen eineBilderschrift. Durch die Verkürzung der Bilder und ihre Verbindung niit Strichenentstand die Wortschrift der Chinesen und Altägypter mit ihren Tausenden von Zeichen.Es war ein ungeheurer Fortschritt, daß die Zeichen immer mehr den Charakter desBildlichen abstreiften, zu Symbolen für Silben und Buchstaben wurden; den Phönikcrngebührt das ungeheure Verdienst, zuerst mit 22 Lautzeichen alle Worte geschrieben zuhaben. Alle Kulturvölker, mit Ausnahme der asiatischen, führen den Stammbaum ihrerSchriftzeichen auf das phönikische Alphabet zurück.
Dieselben Alphabetzeichen dienten dann ursprünglich auch zum Schreiben derZahlen; erst später wandelten sich diese Zeichen zu besonderen abweichenden Zügen um.Unsere heutige Zahlenschrcibweise stammt aus Indien, ist durch die Araber im 13. Jahr-hundert nach Italien gekommen, hat von da im 16. Jahrhundert über Europa sichverbreitet.
Erst wer lesen kann, ist ein Mensch, sagt ein armenisches Sprichwort. Das ver-nünftige Leben beruht auf dem Verständnis der Schrift, meint Diodor . Der Gedanke,der mit dem gesprochenen Worte zündet, aber auch im nächsten Augenblicke verweht,wird in der Schrist in ein totes Zeichen gebannt, das dem Auge für lange Zeiträume,für Jahrhunderte und Jahrtausende sichtbar bleibt. Die Zahl der Zuhörer ist immerbeschränkt, die der Leser unbeschränkt. Und so stellt das geschriebene Wort gleichsameine höhere Potenz der socialen Berührungsmöglichkeit dar, das Wort hat einen neuenLeib angezogen, durch den es unabhängig von seinem Urheber eine lautlose Sprache inalle Fernen und in alle Zeiten erklingen läßt. Mit der Schrist wird die Sprache selbsterst fest und klar, der Gedanke schärfer; die Schriftsprache erzeugt erst im Laufe der Zeiteinheitliche Kultursprachen, welche autoritativ durch die Großthaten der geistigen Heroenbeherrscht, gereinigt, gehoben werden; die deutsche Sprache ist die Sprache Luthers ,Goethes und Rankes. Mit der Schrist entsteht erst eine sichere Erinnerung und Über-lieferung, eine Verbindung von Ahnen und Enkeln. Schriftlose Stämme und Völkerkönnen nicht leicht voranschreiten, weil die Thaten ihrer großen Männer nur schwer zudauernden Institutionen führen. Die großen Fortschritte in Kultus und Gottesverehrung,Sitte, Recht und Verfassung knüpfen alle an heilige Bücher, an Gesetzestaseln, anschriftliche Aufzeichnungen an. Aus Schrift- und Zahlzeichen heraus erst konnte Maß undGewicht, Geld und Marktpreis sich entwickeln. Dasselbe Volk, dem wir unser Alphabetdanken, vermittelte diese chaldäischen und ägyptischen Errungenschaften dem Westen.
Haben zuerst nur die Könige und die Priester auf Stein und Erz geschrieben, sohat man später Leder und Pergament, Papyrusrollen und Wachstafeln auch in weiterenKreisen benutzt. Das Rechtsprechen und Verwalten, Befehlen und Berichten wurdedamit ebenso sehr ein anderes als das Kaufen, Tauschen und Geschäfte-Abschließen.Die Benutzung der Schrift durch die einzelnen in Brief- und anderer Form hat demgesamten individuellen Leben einen anderen höheren Inhalt gegeben. Neben dem Schrift-tum der Priester, Richter, Gesetzgeber und Beamten entstanden die Aufzeichnungen derDenker und Dichter, der Gelehrten und Journalisten, der Kaufleute und Unternehmer.Aus dem mythischen Hcldcngesang und den Rhapsodien der fahrenden Sänger entstanddie Litteratur mit all' ihren Gattungen und tiefgreifenden Wirkungen.
Herder hat Recht, wenn er sagt: „Die Sprache ist das unwesenhasteste, flüchtigsteGewebe, womit der Schöpfer unfer Geschlecht verknüpfen wollte. Die Tradition derSchrift ist als die dauerhafteste, stillste, wirksamste Gottesanstalt anzusehen, dadurchRationen aus Nationen, Jahrhunderte aus Jahrhunderte wirken, und sich das ganzeMenschengeschlecht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zusammenfindet."Das Schrifttum ist das große Behältnis alles geistigen Lebens der Menschheit, einSchatz, der, so lange die Kultur steigt, nur zu- nicht abnehmen kann.