Die Sprache als Vergesellschastmigsmittcl.
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gicbt cs, und desto rascher bilden sie sich selbst um. Die unstete Lebensweise wandernderJägcrstämme erlaubt nicht das stete und scharfe Festhalten derselben Lautzeichen. DieUrenkel verstehen die Urgroßväter nicht mehr; jeder sich absplitternde Teil hat bald eineeigene Sprache. Wenn es jetzt gegen 3000 Sprachen auf der Erde geben soll, sokommen davon aus das kultivierte Europa nur 53. Je größer die Gemeinwesen werden,desto größere Sprachgebiete mit um so ausgebildetercr Sprache entstehen.
Der begabtere Stamm hält das Werkzeug der Gedanken fester; die komplizierterenKulturvorgänge, die festere Gliederung der Gesellschaft, die Vergrößerung des Stammesund Staates befestigen die Sprache und breiten sie aus. Das Bedürfnis, durch deut-liche, klare Sprache sich einem immer größeren Kreis Verschiedenartiger deutlich zumachen, wird von den Herrschenden, wie von den Tauschenden empfunden. Einzelnegrößere Sprachen sind wesentlich mit durch den Verkehr in den Grenzgebieten, wo aus-gleichender Güteraustausch herrschte, entstanden. Die Ausbildung der Sprache ist einstündlich und täglich sich erneuernder Vertrag aller mit allen, welche sie reden. ImSprachschatz sammelt sich das Anschauen, Vorstellen und Denken aller vorangegangenenGeschlechter. Sie ist die symbolische Kapitalisierung der geistigen Arbeit eines Volkes.Sie ist das Instrument der geistigen Erziehung für die heranwachsende Generation.
Die Sprache — sagt Herbart — ist es, welche das eigentliche Band der mensch-lichen Gesellschaft knüpft, „Denn vermittelst des Wortes, der Rede geht der Gedankeund das Gefühl hinüber in den Geist des anderen. Dort wirkt er neue Gefühle undGedanken, welche sogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorstellungen desersteren zu bereichern. Aus diese Weise geschieht es, daß der allermindeste Teil unsererGedanken aus uns entspringt, vielmehr wir alle gleichsam aus einem öffentlichen Vorratschöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung teilnehmen, zu welcher jedereinzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liesern kann. Aber nicht bloß dieSumme des geistigen Lebens, sosern sie im Denken besteht, ist ursprünglich Gemeingut,sondern auch der Wille des Menschen, der sich nach Gedanken richtet. Die Ent-schließungen, die wir fassen, indem wir auf das, was andere wollen, Rücksicht nehmen,geben deutlich zu erkennen, daß unsere geistige Existenz ursprünglich gesellschaftlicherNatur ist. Unser Privatleben ist nur aus dem allgemeinen Leben abgesondert, inwelchem es seine Entstehung, seine Hülfsmittel, seine Bedingungen, seine Richtschnurfindet und immer wieder finden wird."
Die historische Ausbildung der großen Kultursprachen, ihre Fixierung durch dieSchrift, die siegreiche Herrschaft eines Dialekts über die anderen, die räumliche Aus-breitung der großen Sprachen stellt den Prozeß des geistigen Werdens der Volksseele,des Volkscharakters dar. Wie man das germanische Accentgesetz, nach welchem im ein-fachen Wort die Wurzelsilbe den Hauptton trägt, in Zusammenhang brachte mit denCharakterzügen unseres Volkes, aus welchen auch sein Heldengesang, seine Heldenidcale,sein geistiges Wesen bis auf unsere Tage entsprang, wie man aus den gesamten Sprach-denkmälern unseres Volkes ein System der nationalen Ethik hat aufbauen wollen(W. Scherer), so gicbt es auch sür die anderen Kulturvölker und ihr innerstes Wesenkeine anderen, besseren Schlüssel der Erkenntnis als ihre Sprache und ihre Sprach-denkmäler.
Die Berührung der Stämme und Völker untereinander aber von den ersten An-fängen des Tauschverkehrs bis zum heutigen Welthandelssystem beruht aus der Mehr-sprachigkeit der Händler, der Gebildeten, der Regierenden, aus der Herrschast von Welt-sprachen, wie sie einst das Griechische und Lateinische waren, dann das Französische undEnglische wurden. Die Wirkung der nationalen Kulturen aufeinander, die Überlieferungder geistigen Schätze vergangener Völker aus die späteren, die zunehmende Übereinstimmungaller gesellschaftlichen Einrichtungen der verschiedenen Völker ruhen auf derselben Grund-lage. Das Ideal einer letzten fernen Zukunft wäre die einheitliche Weltsprache.
6. Die Schrift ist es, welche gleichsam als potenzierte Sprache erst alle dieticfcrgreifenden Wirkungen derselben erzeugt hat.