Teil eines Werkes 
Theil 2 (1752) Jacob Benignus Bossuet, Bischofs von Meaux, Einleitung in die Geschichte der Welt, und der Religion / fortgesetzet von Johann Andreas Cramern, Hochfürstl. Oberhofpredigern in Quedlinburg
Entstehung
Seite
260
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260 Geschichte der christlichen Religion.

daß sie in der Kirche recht tief einwurzelte. Wieunzählbare falsche Lehren fanden in der Folge unterdiesem einzigen Irrthume Schutz?

Vornehmlich litte die christliche Sittenlehre unterden Irrthümern derer, welche sich von den Recht«glaubigen absonderten, und die Einfälle ihrer kran-ken Vernunft vergötterten. Man erfand in demzweyten Jahrhunderte in den .Gemeinen, welchesonst standhaft bey den allerersten Grundwahrheitendes christlichen Glaubens blieben, eine zwiefache Artder Heiligkeit; eine, die niedriger war, und sich fürdiejenigen schicken sollte, die noch zu fleischlich , nochzu sinnlich, noch zu sehr an die Welt angefesselt wa»ren, als daß sie nach der größten Vollkommenheithätten sireben können; eine andere Frömmigkeit, dienach ihren Begriffen weit erhabener war, und nurfür diejenigen gehörete, welche sich schon zu einergrößern Vollkommenheit empor zu schwingen, undnach einer größern Herrlichkeit nach dem Tode zusireben sich beflissen, als andere. Man machte alsoeinen Unterschied zwischen Vorschriften und zwi»sehen Rathschlägen, welche Christus den Beken-nern seines Namens gegeben haben sollte. Diechristlichen Gnostiker hielten sich für vollkommenund geistlich; die übrigen Christen für unvoll-kommen und fleischlich. Die meisten setzten sichdurch ihr trauriges und von allen Freuden entblößtesLeben in den Ruf der Heiligkeit. Wie himmlisch,wie weit über die Erde erhaben, wie göttlich sindMenschen, die sich auch die kleinsten Ergetzlichkeiten,und selbst den nothdürftigsten Unterhalt versagen,welche mit der größten Sündhaftigkeit des Geistesihren Leib foltern, und ihre eigenen Henker werden-'

können!