276 Geschichte der christlichen Religion.
Seele an die Materie gefesselt, und in dem Körperverschlossen bleibt: so lange kann sie keine wahreGlückseligkeit genießen. Denn eben durch die Hcr-tibneigung der Seele zur Materie neiget sie sich zudem, was nicht ist, vergißt ihres Wesens, entbehretsich gleichsam selbst, und kennet sich nicht. MitRecht heißt daher der Körper ein Gefängniß derSeele, und ein lasterhaftes Leben ist eben deswegeneine wahre Sclaverey. Soll der Geist dieser Scla-verey entrissen werden: so muß er alles wegwerfen,was nicht sein ist; er muß vielmehr seine Seele vonder Knechtschaft des Körpers zu erlösen suchen. DerEndzweck ver Philosophie ist also die Befreyung derSeele von den Fesseln ihres Leibes; sie muß zu demwieder zurück geleitet werden, was wirklich ist; siemuß sich durch die Betrachtung der Wahrheit zu denreinen Geistern aufschwingen, und sich durch sie mitGott vereinigen. Doch diese Vereinigung mit derGottheit kömmt in diesem 5eben nicht völlig zuStande; dieses Glück genießen die gereinigten See-len erst in den Sitzen der Seligkeit. Nur wenigengroßen Geistern, nur einem Pythagoraö, und denen,welche ihm gleichen, gelingt eS zuweilen schon auf derErde, sich in einen Zustand zu versetzen, wo sie ganzSeele werden, und die Gottheit selbst anschauen kön-nen. Es wird aber ein so großes Werk, als dieReinigung der Seele ist, nicht auf einmal, sondernstufenweise vollendet. Daher giebt es natürlicheTugenden, welche den Körper schmücken, und dadurchder Seele ihre Gefangenfchaft erleichtern; sittlicheoder bürgerliche Tugenden, welche die Ordnungund Ruhe des gemeinen Wesens unterhalten; be-schauliche Tugenden, welche den Menschen vom
Körper