2. Das Verhältnis des Autors zur historischen Quelle.
Nicht der Historiker, sondern der auf einen vorhandenen Stoffzurückgreifende freischaffende Künstler hat die Wahl, sich engan sein Vorbild zu halten und die sich ihm bietende Quelle rest-los zu erschöpfen oder aber wie Schiller in seinen Dramen, nachBelieben frei damit zu schalten. Es bleibt ihm die Wahl. Wählter die erstere Eventualität, so läuft er freilich Gefahr, zwischenden Grundbegriffen von Mein und Dein den Trennungsstrich zuverwischen, und man muß zugeben, daß in diesem Falle die An-lehnung so stark sein kann, daß von einer Eigenschöpfung kaumnoch gesprochen werden kann. Goethe plünderte für seinen„Clavigo " ungeniert den Beaumarchais, wie er freimütigzugesteht: „Berechtigt durch unseren Altvater Shakespeare,nahm ich nicht einen Augenblick Anstand, die Hauptszenen unddie eigentlich theatralische Darstellung wörtlich zu übersetzen."Die gleiche Methode empfiehlt er unter ausdrücklichem Hinweisauf sein eigenes Verfahren Eckermann gegenüber: „Wenn ichbedenke, wie Schiller die Überlieferung studierte, was ersich für Mühe mit der Schweiz gemacht habe, als er seinen„Teil" schrieb, und wie Shakespeare die Chroniken be-nutzte und ganze Stellen daraus wörtlich in seine Stücke auf-genommen hat, so könnte man einem jetzigen jungen Dichterauch wohl dergleichen zumuten. In meinem „Clavigo " habe ichaus den Memoiren des Beaumarchais ganze Stellen" 115 ).
Allen Respekt vor Goethe und seiner weitherzigen Toleranz!Aber sein Rezept dürfte weder Anspruch auf Allgemeingültig-keit erheben können noch den Anschauungen unserer Zeit nochgemäß sein. Jeder Autor darf naturgemäß Quellen für seine
11B ) Eckermann , Gespräche mit Goethe vom 10. 4. 1829, in der 7. Auflage,besorgt von Düntzer 1899, II, S. 88; die Meinungen für und wider Goethesind ausführlich wiedergegeben bei: Georg Grempler, Goethes Clavigo .Erläuterung und literarhistorische Würdigung. Halle 1911,
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