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Meister des Plagiats oder die Kunst der Abschriftstellerei / Paul Englisch
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2. Das Verhältnis des Autors zur historischen Quelle.

Nicht der Historiker, sondern der auf einen vorhandenen Stoff zurückgreifende freischaffende Künstler hat die Wahl, sich eng an sein Vorbild zu halten und die sich ihm bietende Quelle rest­los zu erschöpfen oder aber wie Schiller in seinen Dramen, nach Belieben frei damit zu schalten. Es bleibt ihm die Wahl. Wählt er die erstere Eventualität, so läuft er freilich Gefahr, zwischen den Grundbegriffen von Mein und Dein den Trennungsstrich zu verwischen, und man muß zugeben, daß in diesem Falle die An­lehnung so stark sein kann, daß von einer Eigenschöpfung kaum noch gesprochen werden kann. Goethe plünderte für seinen Clavigo " ungeniert den Beaumarchais, wie er freimütig zugesteht:Berechtigt durch unseren Altvater Shakespeare, nahm ich nicht einen Augenblick Anstand, die Hauptszenen und die eigentlich theatralische Darstellung wörtlich zu übersetzen." Die gleiche Methode empfiehlt er unter ausdrücklichem Hinweis auf sein eigenes Verfahren Eckermann gegenüber:Wenn ich bedenke, wie Schiller die Überlieferung studierte, was er sich für Mühe mit der Schweiz gemacht habe, als er seinen Teil" schrieb, und wie Shakespeare die Chroniken be­nutzte und ganze Stellen daraus wörtlich in seine Stücke auf­genommen hat, so könnte man einem jetzigen jungen Dichter auch wohl dergleichen zumuten. In meinemClavigo " habe ich aus den Memoiren des Beaumarchais ganze Stellen" 115 ).

Allen Respekt vor Goethe und seiner weitherzigen Toleranz! Aber sein Rezept dürfte weder Anspruch auf Allgemeingültig­keit erheben können noch den Anschauungen unserer Zeit noch gemäß sein. Jeder Autor darf naturgemäß Quellen für seine

11B ) Eckermann , Gespräche mit Goethe vom 10. 4. 1829, in der 7. Auflage, besorgt von Düntzer 1899, II, S. 88; die Meinungen für und wider Goethe sind ausführlich wiedergegeben bei: Georg Grempler, Goethes Clavigo . Erläuterung und literarhistorische Würdigung. Halle 1911,

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