5
rausch erwacht sind, alle amtlichen Veröffentlichungen über die Kriegsursachenbegegnen. Wir horchen begierig auf, jedesmal wenn ein unabhängiger Zeuge, dernicht einfach Propaganda treibt, die Stimme erhebt, wenn ein Wissender ohne denWillen, gegen den Wunsch seiner Regierung die Geschehnisse vor Kriegsausbruchbeurteilt, oder wenn der Zeuge in Gestalt unbekannter Dokumente auftritt, Doku-mente aus den Archiven einer Regierung, der nichts peinlicher ist, als eine solcheVeröffentlichung. Hätte Lichnowsky im Auftrag seiner Regierung gesprochen odergeschrieben, so würden seine Mitteilungen auf dieselbe Gleichgültigkeit gestossensein, wie so zahlreiche andere Aeusserungen von Diplomaten und Staatsmännernder kriegführenden Länder. Der Umstand aber, dass der Fürst und seine Denk-schrift so überaus heftig bekämpft werden, dass man ihn zum Hochverräter stempelnwill, gibt uns Vertrauen zu ihm, was nebenbei gesagt ein ausreichender Beweisfür den Mangel an Intelligenz ist, mit dem die Gegner des Fürsten ihren Rache-feldzug inszenierten. Ist es aber einerseits von Bedeutung für uns, dass der Fürstnicht als gehorsames Mitglied des deutschen Regierungskörpers das Wort ergreift,so ist es natürlich andererseits von nicht minder grosser Bedeutung, dass er bisKriegsausbruch als hoher Reichsbeamter wirkte. Ohne diese seine Eigenschaftwäre seine Zeugenaussage natürtich immer noch interessant. Aber sie hätte dochdann kaum mehr Wert als gewisse andere Erzeugnisse der Kriegsliteratur, wiez. B. das Buch „J’accuse“, die „Verite “ von Joseph Bertorieux oder die Schriften,in denen die englischen Pazifisten ihre Regierung angriffen. So wirksam in derTat diese Arbeiten über die Vorgeschichte des Krieges auf das grosse Publikumsein mochten, so beruhte doch ihr Wert, der in erster Linie ein propagandistischerwar, nicht auf dem Neuen das sie vermittelten, sondern nur eben auf der Tat-sache, dass es Angehörige des betreffenden Staates waren, die Ansichten ver-traten, wie sie sonst nur von den Gegnern dieses Staates vertreten wurden. Manhat sie daher auch nie als wirkliche Beiträge zur Geschichte unserer Zeit aufge-fasst; sie reihten sich ein in die vielfältigen Kriegswaffen, mit denen sich dieeinzelnen Regierungen bekämpfen. Nicht in dem Material, das sie brachten, daslängst von der jeweils feindlichen Seite verbreitet worden war, lag ihre Wirksam-keit, sondern wie gesagt in dem einzigen Umstande, dass dieses Material vonAngehörigen des angeschuldigten Staates aufgegriffen und kommentiert wurde,worin man eine Erhöhung der Beweiskraft dieses Materials erblicken wollte. Fürdie geschichtliche Erkenntnis ist es aber selbstverständlich ganz gleichgiltig, obschon oft gesagte Dinge von Feinden oder von Freunden neu vorgetragen werden.
Es ist umso notwendiger, auf den Unterschied hinzuweisen, der zwischen dieserArt von Kriegsliteratur und der Denkschrift des Fürsten Lichnowsky besteht, alsdie lächerliche Hochverratsanklage sich zum Teil auf solch böswillige Verwechs-lung stützt. Ein Blick auf den Brief des Fürsten , den der deutsche Vizekanzlerselbst im Reichstage verlas, sollte doch auch denjenigen, die sich nicht die Mühenahmen, die Denkschrift selbst zu lesen, genügen, um die Unhaltbarkeit solcherAnschuldigungen zu erkennen. Der Fürst wollte keine Veröffentlichung seinerAufzeichnungen. Sie können daher unter keinen Umständen als bewusste Propagandagegen seine Regierung aufgefasst werden. Die Vorwürfe, die man auf der einenSeite dem deutschen Verfasser von „J’accuse“, auf der andern dem FranzosenBertorieux machen durfte, sind hier nicht am Platze. Es war nicht die AbsichtLichnowskys, seiner Regierung im Auslande und ebensowenig im eigenen Lande