Print 
Die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky : [der vollständige Wortlaut] ; meine Londoner Mission 1912 - 14, von Fürst Lichnowsky, ehemaliger deutscher Botschafter in London ; [zur Vorgeschichte des Krieges] / hrsg. von einer Gruppe von Friedensfreunden
Place and Date of Creation
Page
9
Turn right 90°Turn left 90°
  
  
  
  
  
 
Download single image
 
  

9

den Wert oder Unwert einer Arbeit zu erkennen. Unser geschichtlicher Sinn isthinreichend geschärft, um Neues von Altem, Wesentliches von Unwesentlichem zuunterscheiden. Dazu bedürfen wir keineraufklärenden Reichtagsreden, denn füruns ist es keine Todsünde, dass Fürst Lichnowsky stets ein erbitterter Feind desBündnisses mit Oesterreich-Ungarn war, seine politischen Neigungen und Lieb-habereien gehen uns nichts an, wie es uns gleichgültig ist, dass dieser deutscheStaatsmann verliebt war in englische Sitten, englische Denkungsart und im Grundeseines Herzens mehr als Angelsachse denn als Preusse fühlte. Das sind Dinge,die für die öffentliche Meinung in Deutschland und die Regierung ein gewissesInteresse haben können. Uns interessiert nur diese eine Frage: Inwiefern sind dieAufzeichnungen des Fürsten Lichnowsky ein Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges?Inwiefern erlauben sie, mehr Licht in die dunklen Vorgänge zu tragen, aus denender ungeheuerliche Konflikt erwachsen ist? Uns interessiert nur der Charakterder Denkschrift, nicht der des Fürsten !

Andere Voraussetzungen brauchen wir nicht, um aus der Denkschrift selbstzu erkennen, wie weit sie Material für die Erweiterung oder Vertiefung unsererKenntnisse über die Vorgeschichte des Krieges bieten kann.

Ob damit der Propaganda dieser oder jener Mächtegruppe gedient ist, darfuns gleichgültig sein. DerFall Lichnowsky ist hinreichend unter diesen wenigerbaulichen Gesichtspunkten gewertet worden. Und fast scheint es, als ob manauf beiden Seiten, verblendet durch die Polemik, in einseitiger Ausbeutung undBekämpfung des Fürsten vergessen habe, die Denkschrift wirklich zu lesen!*)

II.

Vollständiger Wortlaut der Denkschrift des Fürsten Lichnowsky.

Wir sind in der Lage, im Folgenden den vollständigen Wortlaut der Denk-schrift, so wie sie geheim in Deutschland verbreitet wurde, wiederzugeben. Derin Deutschland verbreitete Druck trägt den TitelDie Schuld der deutschen Regierungam Kriege.

Dieser Titel stammt nicht vom Verfasser, der seiner Denkschrift nur den (alsUntertitel von den unbekannten Verbreitern wiedergegebenen) Satz voranstellte:Meine Londoner Mission 19121914.

*) Es ist bezeichnend, dass man in England durchaus keine übertriebene Freude über das Erscheinender Denkschrift an den Tag legte. In einer durchaus anglophiien Londoner Korrespondenz derNeuenZürcher Zeitung vom 4. April 1918 wurde in der Tat ausdrücklich festgestellt, dass die Schrift in London sehr reserviert aufgenommen wurde. Der Korrespondent schrieb u. a.:

So kommt es, dass die Veröffentlichung der Denkschrift Fürst Lichnowskys misstrauisch (im Originalgesperrt) aufgenommen wird. Die Offenheit, mit der er sicli ausdrückt und die Ehrlichkeit der PolitikSir Edwards Qreys hervorhebt, fällt dermassen auf, dass man nacli den Gründen sucht, warum einDokument veröffentlicht wurde, das zur Rechtfertigung der Haltung seines Verfassers für wenige sehrzuverlässige Freunde bestimmt war. Man argwöhnt stark, dass sie in Berlin arrangiert wurde , um dieAnhänger der Anschauungen Lord Lansdownes in England zu überzeugen, dass keine unüberwindbarenSchwierigkeiten gegen eine Vereinbarung über die Hauptfriedenspunkte bestehen, da doch Graf Hertling selbst die vier Grundsätze Präsident Wilsons angenommen habe, und um sie zu ermutigen, neue An-strengungen zu unternehmen, in dem Glauben, dass Versuche zugunsten eines vernünftigen und ehren-haften Friedens in England beträchtliche Unterstützung fänden.

Also. Lichnowsky gilt in Berlin als Hochverräter, in London als Strohmann der deutschen Regierungfür ihre Friedenspliine! Nichts beweist besser die Verwirrung, die dieSensation Lichnowsky ange-richtet hat.