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Lichnowsky vorgeworfen werden, so sehr sich seine Gegner auch in dieser Rich-tung bemühen. So sorgsam sie auch suchen mögen, es wird ihnen nicht gelingen,in der Denkschrift irgend ein Dokument in der Art jener übrigen Enthüllungenzu finden.
So sehr man sich darüber freuen mag, dass den Gegnern des Fürsten aufdiese Weise eine wirksame Waffe aus der Hand gewunden ist, so sehr mussman andererseits vom Standpunkt des Historikers bedauern, dass die Denkschrift,wenn sie auch höher als andere Zeugenaussagen zur Vorgeschichte des Kriegessteht, nicht etwa jenen aufklärenden Enthüllungscharakter besitzt, wie ebenbeispielsweise die belgischen Diplomatenberichte. Die belgischen Diplomatenbe-richte, mit denen der Vergleich am nächsten liegt, waren in der Tat zu keinemanderen Zweck als dem der Informierung der eigenen Regierung niedergeschriebenworden. Beyens, Greindl und seine Kollegen hatten nicht die Absicht, ihre eigenePolitik zu rechtfertigen, sondern gaben einfach ihre Beobachtungen wieder. Dasgerade verleiht ihnen ihren historischen Wert. Die Schrift des Fürsten Lichnowskydagegen dient, wie er ausdrücklich sagt, der Rechtfertigung seiner Politik. DieTatsachen, die er schildert, sind nicht für seine Regierung bestimmt, sonderngegen sie gerichtet, wenn sie auch nicht veröffentlicht werden sollten. Anderer-seits sind die'Berichte der diplomatischen Vertreter Belgiens Tag für Tag, Stundefür Stunde, vor der Ausreifung der Ereignisse abgefasst worden. Die SchriftLichnowskys ist zwei Jahre nach Kriegsausbruch, unter ganz bestimmten retro-spektiven Gesichtspunkten, mit der vorgefassten Absicht, eine ganz besondereThese zu beweisen, niedergeschrieben worden. Die Berichte der Belgier sind anund für sich diplomatische Dokumente. Die Denkschrift des Fürsten ist, wie erausdrücklich hervorhebt, ohne Notizen, ohne Material aus dem Gedächtnis nieder-geschriebene Erinnerung. Wenn Fürst Lichnowsky während seiner Amtszeit, vorKriegsausbruch seine Eindrücke zu Papier gebracht hätte, zu einer Zeit, da er nochim Glanze seines Lebens stand und nicht daran zu denken brauchte, in eigenerSache zu schreiben, und wenn diese Aufzeichnungen durch Aufzeichnungen andererdeutscher Botschafter an wichtigen Stellen ergänzt werden könnten, so würdeallerdings eine deutliche Parallele zwischen den belgischen Berichten und denDarlegungen des Fürsten zu ziehen sein. Als die Belgier ihre Berichte nach Brüssel sandten, waren sie überdies leitende Mitglieder der belgischen Staatsmaschine undhandelten im Aufträge ihrer Regierung. Als Lichnowsky seine Denkschrift verfasste,war er ein angegriffener Aussenseiter, ein Privatmann, der die offene Absichtverfolgte, die Regierung, wenn auch nur im engsten Kreise, blosszustellen. Diebelgischen Berichte waren für die Staatsarchive, die Schrift des Fürsten, wie erselbst sagt, für das Familienarchiv bestimmt. So kommen wir denn zu dem Er-gebnis, dass es sich bei der Denkschrift des Fürsten weder um eine Anklageschriftnoch um eine Enthüllung unbekannter Dokumente zur Schädigung des Vaterlandeshandelt. Das Amt des Verfassers verleiht ihr höheren Wert, als eben sonst Kriegs-literatur aufweist, führt aber nie dazu, dass er irgendwelche ihm vielleicht kraftseines Amtes bekannt gewordene Geheimnisse preisgibt.
Wenn wir diese wesentlichen Feststellungen machen, werden wir, ungehindertum die geräuschvolle Polemik, die um die Aufzeichnungen des Fürsten entfesseltwurde, ihren historischen Gehalt würdigen können. Die Bemühung der deutschenOffiziösen, den Fürsten als pathologische Erscheinung darzustellen, als einen voll-