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seinem Tagebuch oder im vertraulichen Kreise lässig hingeworfene Dinge sagt,die, hätte er sie für die breite Oeffentlichkeit bestimmt, ganz anders dargestelltworden wären. Und wer möchte so ganz die Möglichkeit von der Hand weisen,dass, wäre Fürst Lichnowsky , wie von vielen Seiten erwartet wurde, als Bethmannsoder Michaelis’ Nachfolger Reichskanzler geworden, er die Weltereignisse ganzanders betrachtet hätte als in seiner heimlichen Denkschrift?
Meine Londoner Mission 1912 — 1914.
Fürst Lichnowsky wird Botschafter. Er wundert sich darüber.
Im September 1912 starb Baron Marschall, der nur wenige Monate auf demLondoner Posten gewesen war. Seine Ernennung, die wohl hauptsächlich wegenseines Alters und der nach London gerichteten Wünsche seines jüngeren Beamtenerfolgte, gehörten zu den vielen Missgriffen unserer Politik.
Trotz eindrucksvoller Persönlichkeit und grossem Ansehen zu alt und zu müdeum sich noch in die ihm völlig fremde angelsächsische Welt einzuleben, war ermehr Beamter und Jurist als Diplomat und Staatsmann. Er war sofort eifrig bestrebt,die Engländer von der Harmlosigkeit unserer Flotte zu überzeugen, wodurch natürlichnur der gegenteilige Eindruck erstarkte.
Zu meiner grossen Ueberraschung wurde mir im Oktober der Posten angeboten.Ich hatte mich nach mehrjähriger Tätigkeit als Personalreferent auf das Landzurückgezogen, da auch ein geeigneter Posten nicht zu meiner Verfügung war, unddie Zeit zwischen Flachs und Rüben und auf Pferden und Wiesen verbracht, dabeiauch manches gelesen und gelegentlich politische Aufsätze veröffentlicht.
So waren 8 Jahre vergangen und 13, seitdem 'ich Wien als Gesandter verliess.Meine letzte politische Wirksamkeit war eigentlich dort gewesen, da man damalsim Amte zu keiner Betätigung gelangen konnte, ohne nach den Weisungen einesMannes, der an Wahnvorstellungen litt, schrullenhafte Erlasse mit krausen Instruk-tionen zu verfassen.
Auf wen eigentlich meine Berufung nach London zurückzuführen war, weissich nicht. Auf S. M. allein keinesfalls, denn ich gehörte nicht zu seinen Intimen,wenn er mir auch stets mit Wohlwollen begegnete. Aus Erfahrung weiss ich auch,dass seine Kandidaten meist mit Erfolg bekämpft werden. Herr von Kiderlenwollte eigentlich Herrn von Stumm nach London schicken ! Er begegnete mir sofortmit unverkennbarem Uebelwollen und suchte mich durch Unhöflichkeit einzuschüchtern.Herr von Bethmann Hollweg brachte mir damals freundschaftliche Gesinnungenentgegen, und hatte mich kurz vorher in Grätz besucht. So glaube ich, dass mansich auf mich einigte, weil kein anderer Kandidat augenblicklich zur Verfügungstand. Wäre nicht Baron Marschall unerwartet gestorben, so wäre ich damalsebensowenig hervorgeholt worden, wie in den vielen vergangenen Jahren.
Die Marokkoaffäre ist ein deutscher Misserfolg. Die deutsche Diplomatie istSchuld daran, dass Westmarokko nicht deutsch wurde.
Der Augenblick war zweifellos günstig für einen neuen Versuch, um mit England auf besseren Fuss zu gelangen. Unsere rätselhafte Marokkopolitik hatte wieder-holt das Vertrauen in unsere friedlichen Gesinnungen erschüttert, zum mindestenaber den Verdacht erregt, dass wir nicht recht wussten, was wir wollten, oder