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Die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky : [der vollständige Wortlaut] ; meine Londoner Mission 1912 - 14, von Fürst Lichnowsky, ehemaliger deutscher Botschafter in London ; [zur Vorgeschichte des Krieges] / hrsg. von einer Gruppe von Friedensfreunden
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Sir Ed. Grey leitete die Verhandlungen mit Umsicht, Ruhe und Takt. Wenneine Frage sich zu verwickeln drohte, entwarf er eine Einigungsformel, die dasRichtige traf und auch stets Annahme fand. Seine Persönlichkeit genoss bei allenTeilnehmern gleiches Vertrauen.

Das Scheitern der großserbischen Ansprüche erbittert Russland .

Wir hatten tatsächlich wieder einmal eine der vielen Kraftproben, die unserePolitik kennzeichnet, glücklich überstanden. Russland hatte überall vor uns zurück-weichen müssen, da es niemals in der Lage war, den serbischen Wünschen Erfolgzu verschaffen. Albanien war als österreichischer Vasallenstaat errichtet und Serbien vom Meere verdrängt. Der Verlauf der Konferenz war daher eine neue Demüti-gung für das russische Selbstbewusstsein. Wie 1878 und 1908 hatten wir unsschon dem russischen Programm entgegengestellt, ohne dass deutsche Interessenim Spiele waren. Bismarck wusste den Fehler des Kongresses durch den gehei-men Vertrag und durch seine Haltung in der Battenbergfrage zu mildern; die inder bosnischen Frage wieder betretene abschüssige Bahn wurde in London weiterverfolgt und später, als sie zum Abgrund führte, nicht rechtzeitig verlassen.

Die Mißstimmung, die damals in Russland herrschte, kam während der Kon-ferenz durch Angriffe gegen meinen russischen Kollegen und die russische Di-plomatie in den russischen Blättern zum Ausdruck. Seine deutsche Herkunft undkatholische Konfession, sein Ruf als Deutschenfreund, und der zufällige Umstand,dass er sowohl mit dem Grafen Mensdorff, wie mit mir verwandt ist, kamen denunzufriedenen Kreisen zu statten. Ohne eine sehr bedeutende Persönlichkeit zusein, besitzt Graf Benckendorff eine Reihe von Eigenschaften, die einen gutenDiplomaten kennzeichnen: Takt, gesellschaftliches Geschick, Erfahrung, verbindli-ches Wesen, natürlichen Blick für Menschen und Dinge. Er war stets bestrebt,eine schroffe Stellungnahme zu vermeiden und wurde durch die Haltung Englands und Frankreichs auch darin bestärkt.

Ich sagte ihm später einmal: Die Stimmung in Russland ist wohl sehr antideutsch.Er entgegnete: Es gibt auch sehr starke und einflussreiche prodeutsche Kreise,man ist aber allgemein antiösterreichisch!

Es erübrigt sich, hinzuzufügen, dass unsere Austrophilie ä outrance (Oester-reich-Freundschaft bis zur äussersten Grenze) nicht gerade geeignet war, die Ententezu lockern und Russland seinen asiatischen Interessen zuzuführen!

Lichnowsky missbilligt das Interesse Deutschlands für Bulgarien .

Gleichzeitig tagte in London die Balkankonferenz, und ich hatte Gelegenheit,mit den Leitern der Balkanstaaten in Fühlung zu treten. Die bedeutendste Per-sönlichkeit war wohl Herr Venizelos . Er war damals nicht weniger als deutsch-feindlich, besuchte mich wiederholt und trug mit Vorliebe und sogar auf derfranzösischen Botschaft das Band des Roten Adlerordens . Von gewinnenderLiebenswürdigkeit, mit weltmännischem Auftreten, wusste er sich Sympathien zuverschaffen. Neben ihm spielte Herr Danew, der damalige bulgarische Minister-präsident und Vertrauensmann des Grafen Berchtold, eine grosse Rolle.Er machte den Eindruck eines verschlagenen und energischen Mannes, und es istwohl nur dem Einfluss seiner Wiener und Pester Freunde zuzuschreiben, überderen Huldigungen er sich gelegentlich belustigte, dass er sich zu der Torheit deszweiten Balkankrieges verleiten liess und die russische Vermittelung ablehnte.