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Die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky : [der vollständige Wortlaut] ; meine Londoner Mission 1912 - 14, von Fürst Lichnowsky, ehemaliger deutscher Botschafter in London ; [zur Vorgeschichte des Krieges] / hrsg. von einer Gruppe von Friedensfreunden
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England wird bei einem deutsch-französischen Kriege auf Frankreichs Seite treten.

Ich hatte bald nach meiner Ankunft die Ueberzeugung gewonnen, dass wirunter keinen Umständen einen englischen Angriff oder eine englische Unterstützungeines fremden Angriffes zu befürchten hätten, dass aber unter allen UmständenEngland die Franzosen schützen würde. Diese Ansicht habe ich in wiederholtenBerichten und mit ausführlicher Begründung und grossem Nachdruck vertreten,ohne jedoch Glauben zu finden, obwohl die Ablehnung der Neutralitätsformel durchLord Haldane und die Haltung Englands während der Marokkokrise recht deutlicheWinke waren. Dazu kamen noch die bereits erwähnten und dem Amte bekanntengeheimen Abmachungen.

Ich wies immer darauf hin, dass England als Handelsstaat bei jedem Kriegezwischen europäischen Grossmächten ausserordentlich leiden, ihn daher mit allenMitteln verhindern würde, andererseits aber eine Schwächung oder VernichtungFrankreichs im Interesse des europäischen Gleichgewichts und um eine deutscheUebermacht zu verhindern, niemals dulden könne. Das hatte mir bald nach meinerAnkunft Lord Haldane gesagt, ln ähnlichem Sinne äusserten sich alle massgebendenLeute.

Lichnowsky Ehrendoktor von Oxford .

Ende Juni begab ich mich auf allerhöchsten Befehl nach Kiel , nachdem ichwenige Wochen vorher in Oxford Ehrendoktor geworden war, eine Würde, die vormir kein deutscher Botschafter seit Herrn von Bunsen bekleidet hatte. An Bord desMeteor erfuhren wir den Tod des Erzherzogthronfojgers. S. M. bedauerte, dassdadurch seine Bemühungen, den hohen Herrn für seine Ideen zu gewinnen, ver-geblich waren. Ob der Plan einer aktiven Politik gegen Serbien schon in Konopischtfestgelegt wurde, kann ich nicht wissen.

Die Ermordung Franz Ferdinands . Der seekranke Graf.

Da ich über Wiener Ansichten und Vorgänge nicht unterrichtet war, mass ichdem Ereignisse keine weitgehende Bedeutung bei. Ich konnte später nur feststellen,dass bei österreichischen Aristokraten ein Gefühl der Erleichterung andere Em-pfindungen überwog. An Bord desMeteor befand sich auch ein Gast S. M., einOesterreicher, Graf Felix Thun. Er hatte die ganze Zeit wegen Seekrankheit, trotzherrlichen Wetters, in der Kabine gelegen. Nach Eintreffen der Nachricht war eraber gesund. Der Schreck oder die Freude hatte ihn geheilt!

Lichnowsky und Bethmann sind verschiedener Ansicht über Russland .

Die Rolle des deutschen Botschafters in Wien .

In Berlin angekommen, sah ich den Reichskanzler und sagte ihm, dass ichunsere auswärtige Lage für sehr befriedigend hielt, da wir mit England so gut ständen,wie schon lange nicht. Auch in Frankreich sei ein pazifistisches Ministerium am Ruder.

Herr von Bethmann Hollweg schien meinen Optimismus nicht zu teilen undbeklagte sich über russische Rüstungen. Ich suchte ihn zu beruhigen und betontenamentlich, dass Russland gar kein Interesse habe, uns anzugreifen, und dass einsolcher Angriff auch niemals die englisch -französische Unterstützung finden würde,da beide Länder den Frieden wollten. Darauf ging ich zu Herrn Dr. Zimmermann,der Herrn von Jagow vertrat, und erfuhr von ihm, dass Russland im Begriffe sei,900,000 Mann neuer Truppen aufzustellen. Aus seinen Worten ging eine unver-kennbare Mißstimmung gegen Russland hervor, das uns überall im Wege sei.