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Die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky : [der vollständige Wortlaut] ; meine Londoner Mission 1912 - 14, von Fürst Lichnowsky, ehemaliger deutscher Botschafter in London ; [zur Vorgeschichte des Krieges] / hrsg. von einer Gruppe von Friedensfreunden
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land nützlich sein können, zu entfesseln, und die einzelnen Staaten gegeneinanderauszuspielen. Sein Tadel in der Marokkofrage mündet in dem Vorwurfe aus, dassdie Unfähigkeit der deutschen Politik die Erwerbung von Westmarokko unmöglichgemacht habe. Er ist ein überzeugter Anhänger des Kolonialimperialismus, derAufteilung Afrikas und des Orients unter den Grossmächten- ohne Rücksicht aufdie kleinen Kolonialstaaten wie Portugal und auf das Nationalitätenprinzip. SeineHaupttätigkeit gilt diesen Fragen und sein Hauptgroll der Verständnislosigkeit,die Berlin hierbei zeigte. Auch hier denkt er ganz im Geiste der alten Schule. Ermacht sich über die Berliner Regierung lustig, weil Rücksichten auf die Rückwirkungin Portugal und Belgien sie davon abhalten, Verträge über die Teilungportugiesischen und belgischen Kolonialgebietes einzugehen. Aus diesen Anschau-ungen erwachsen seine Vorwürfe gegen die Berliner Politik. Man wird der Ansichtsein, dass manche Vorwürfe gerechtfertigt sind, ohne aber die Politik des Fürsten zu billigen. Eine Politik, wie er sie befürwortet, hätte ebenfalls zu schweren Kon-flikten führen können. Sie ist auf jeden Fall von keinem weiteren Geist er-füllt als die offizielle Berliner Politik. Unsere Aufgabe ist es aber hier nicht, zuuntersuchen, inwieweit die Politik des Fürsten oder die seiner Regierung die bessereist. Wir dürfen uns mit der Feststellung begnügen, dass seine Urteile und seineVorwürfe, soweit sie sich auf die weitere Vorgeschichte des Krieges beziehen, dieSchuldfrage ungelöst lassen und für die Erkenntnis von den Ursachen des Kriegesbelanglos sind.

Hinter seinen Urteilen stehen aber die Tatsachen, die er beobachtet und über-mittelt hat, und auf diese kommt es in erster Linie an. Sie gilt es, sachlich ausden Aufzeichnungen heraus zu schälen.

Marokko.

In der Marokkofrage stellt Lichnowsky fest, dass sie rätselhaft und fehlerhaftwar. Er behauptet, dass Delcasse eine Verständigung mit Deutschland suchte.Wir wissen aber nicht, worauf der Fürst hierbei anspielt. Er verzeichnet denschlechten Eindruck des Coup von Agadir, rühmt aber das Verdienst Kiderlens,der die Marokkoaffäre liquidierte. Sie ist ein Rückzug der deutschen Diplomatie.Das endgültige Abkommen mit Frankreich beruhigte England. Die Marokkoaffäreist befriedigend beigelegt. Der deutsche Rückzug beweist, auch nach AnsichtLichnowskys, dass Deutschland damals den Krieg nicht wollte.

Balkan.

Deutschland überlässt Oesterreich die Führung. Es vernachlässigt die Förde-rung deutscher Interessen zugunsten österreichischer. Der Sieg Serbiens im zweitenBalkankriege ist eine Blamage für Oesterreich. Brütet Oesterreich auf Rache?Lichnowsky kann nur Vermutungen aussprechen und sich dabei nur auf die be-kannten Angaben San Guilianos beziehen.

Russland.

Der Ausgang der von Grey präsidierten Londoner Botschafterkonferenz läsststarke Verstimmung in Russland zurück, das über das Scheitern der großserbischenAusprüche erbittert ist. Das Ergebnis der Konferenz ist zum grossen Teil auf GreysVermittlung zurückzuführen. Die deutsche Politik in der Türkei erbittert ebenfallsRussland. Der Einfluss Deutschlands in Russland ist mehr als gering. Wenn