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politischen Entwicklung Europas in dem letzten Jahrzehnt vor dem Kriege dar.Sie zeigen Englands glänzende Machtstellung und die wachsende Isolierung Deutsch-lands. Sie bestätigen die starke Spannung zwischen den Mittelmächten und Russ-land . Sie enthüllen die dauernde Gefahr der Balkanlage. Sie zeigen deutlich dieKräfteverschiebung, die sich im europäischen Gleichgewicht vorbereitet: Der Ueber-gang Italiens zu der Entente, Englands künftige Haltung in einem europäischenKriege, die deutlich auf Seiten Frankreichs und Russlands vorgezeichnet ist. Zwei-mal wird der Weltkrieg vermieden: In der Marokkoaffäre dank eines deutschenRückzuges; nach dem ersten Balkankrieg dank des russischen Misserfolges aufder Botschafterkonferenz. Der zweite Balkankrieg macht den russischen Misserfolgwieder wett. Serbien triumphiert und Oesterreich ist gedemütigt. England lässtdie Balkanfragen ausreifen, tut nichts, um die österreichische oder die russischeMisstimmung zu erhöhen oder zu beseitigen. Es versucht Deutschlands Kräfteebenso in exotischen Unternehmungen zu binden, wie früher Bismarck die KräfteFrankreichs . Es ist entschlossen, seine Vormachtstellung zu wahren.
Es mochte den Gegnern des Fürsten unangenehm sein, dass der Fürst diesesfür die deutsche Politik wenig glänzende Bild entwarf. Man darf aber überzeugt sein,dass wirkliche deutsche Vaterlandsfreunde Lichnowsky kaum darüber gram gewesenwären, wenn nicht eben die subjektive, gereizte und sprunghafte Art, mit der erseine Schilderung nicht eben vorteilhaft und nutzbringend umgibt, in sie Tendenzenhineingetragen hätten, die in Wirklichkeit mit dem geschilderten Sachverhalt nichtszu tun haben. Immerhin dürfte man es auch in der vorliegenden Form der Denk-schrift anerkennen, dass trotz seiner „Anglomanie“ Lichnowsky die England starkbloßstellenden Ereignisse durchaus nicht unterschlägt, wie Englands Pläne hinsicht-lich der neutralen belgischen Kolonien, sein Vorgehen in Portugal und sein Ge-heimabkommen mit Frankreich. Bei einer sachlichen Durcharbeit seiner Aufzeich-nungen, bei einer freiwilligen Veröffentlichung wären diese Teile der Denkschrift,losgelöst von den persönlichen Stimmungen, sicher in ganz anderem Lichte er-schienen. Es ist mehr als zweifelhaft, dass sich in diesem Falle die Feinde Deutsch-lands ihrer bedient hätten ; und Reuter hätte dann wohl gerne darauf verzichtet, jeneKapitel aus der Vorzeit des Krieges- zu verbreiten, in denen neben einer fehler-haften und unklugen deutschen Politik das eindrucksvolle Bild einer zielbewussten,nur auf eigene Interessen bedachten und von einem einzigen Manne geleitetenbritischen Weltmachtspolitik entworfen wird, einer Weltmachtpolitik, die gewillt ist,ihren imperialistischen Charakter zu wahren, sei es durch geschickte Bindung derKräfte des Rivalen im Frieden, sei es durch militärisches Eingreifen auf SeitenFrankreichs und Russlands im Kriege.
B. Die Krisis unmittelbar vor Kriegsausbruch.
Wie sehr die unbedachte Polemik, die um die Denkschrift des Fürsten Lich-nowsky entfesselt wurde, alle tatsächlichen Proportionen verschob, erhellt wohl ambesten aus der Tatsache, dass die Ausführungen über die unmittelbare Vorgeschichtedes Krieges einen recht geringen Raum in der Denkschrift einnehmen. Dies lehrtohne weiteres eine flüchtige Lektüre. Bei aufmerksamem und kritischem Lesenerkennen wir aber, was nicht minder bezeichnend ist, dass der Fürst gerade beidiesem Teil der Arbeit seinen persönlichen Meinungen und den aus fremden be-