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Die politische Situation nach Ueberreichung des österreichischen Ultimatumsin Belgrad sei folgende gewesen: „Die ganze Welt, ausser in Berlin und Wien ,begriff, dass es den Krieg und zwar den Weltkrieg bedeute“. Diese AeusserungLichnowskys verdient insofern Beachtung, als sie Deutschland zwar unter der An-klage belässt, durch falsche Einschätzung der Lage den Krieg mitverursacht zuhaben, aber es von der Anklage, es habe den Krieg gewollt, freispricht. ImUebrigen ist die Ausbeute ziemlich dürftig. Aber auch dieser Umstand, an und für sich,ist bedeutungsvoll. Die noch unveiöffentlichten Instruktionen und Erlasse aus Berlin an Lichnowsky enthalten also nichts Neues, weder für England noch für Deutschland neu Belastendes. Sonst hätte die Denkschrift zweifellos hierüber Mitteilungengemacht.
Der Tatbestand stellt sich nunmehr nach der Denkschrift, soweit es sich umdie unmittelbare Vorgeschichte des Krieges handelt, folgendermassen dar:
Deutschland, Oesterreich, Russland .
1. Noch kurz vor Kriegsausbruch erklärte sich Deutschland zur Unterzeichnungdes von England vorgeschlagenen Kolonialvertrages über Portugal bereit,in dem Lichnowsky die Grundlage für eine deutsch -englische Verständigungerblickte.
2. Ueber eine deutsche Beteiligung am Ultimatum an Serbien weiss Lichnowsky nichts zu berichten und beschränkt sich auf später erfahrene Gerüchte.
3. In Berlin war man einerseits über Russlands militärische Vorbereitungenbeunruhigt, glaubte aber andrerseits an Russlands Nachgiebigkeit.
4. Man legte Wert darauf, dass England den österreichischen Schritt freundlichbeurteile.
5. Man wünschte die Lokalisierung des Konfliktes und hielt eine Einmischung inden österreichisch-serbischen Konflikt als unvereinbar mit der WürdeOesterreichs .
6. Deutschland hielt die Gefahr beseitigt durch das Entgegenkommen Oester-reichs , das keine Gebietserwerbungen beabsichtigte.
7. In Berlin und Wien glaubte man nicht, dass aus dem österreichischen Schrittein Weltkrieg entstehen könne. Lichnowsky verzeichnet die „demütigen“Telegramme des Zaren, stellt aber fest, dass Russland mobil machte, aller-dings nachdem es eine ganze Woche gewartet hatte, und dass dasdeutsche Ultimatum die Folge dieser Mobilmachung war.
8. Deutschland war bereit, den angeblichen Vorschlag Englands betr. einerfranzösisch-deutschen Neutralität anzunehmen.
Alle diese Tatsachen sind bekannt und decken sich mit den amtlichen, auchdeutschen Feststellungen. Mit der Einschränkung, dass heute, nicht nur durch denSuchomlinowprozess, erwiesen ist, dass die russische Mobilmachung nicht erstnach einer Woche, sondern sofort nach Ueberreichung des Ultimatums an Serbien beschlossen wurde. Fürst Lichnowsky war diese'Tatsache bei Niederschrift derDenkschrift unbekannt, wie ihm alle Vorgänge in Petersburg dank des merkwürdigenMisstrauens, das die Berliner-Regierung ihrem Londoner Vertreter entgegenbrachte,unbekannt blieben. Wenn daher Lichnowsky gerade in der verhältnismässig klarenFrage der Mobilmachung sich dem amtlichen Berliner Standpunkt nicht anschlossmögen die Herren sich selbst darüber Vorwürfe machen.