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Die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky : [der vollständige Wortlaut] ; meine Londoner Mission 1912 - 14, von Fürst Lichnowsky, ehemaliger deutscher Botschafter in London ; [zur Vorgeschichte des Krieges] / hrsg. von einer Gruppe von Friedensfreunden
Entstehung
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England .

1. Bei Ausbruch des Krieges wird die englische Politik fast ausschliesslich vonSir Edward Grey gemacht, der entschlossen ist, im Kriegsfall mit Frankreich zu gehen. Neben Grey hat der deutschfeindliche Nicolson starken Einfluss.Neben Nicolson Sir W. Tyrell, der wie alle jüngern englischen Diplomatendeutschfeindlich war, später Anhänger einer Verständigung wurde, als solcheraber nach Kriegsausbruch das Foreign Office verlassen musste.

.2. Die öffentliche Meinung in England ist zuerst Oesterreich freundlich gesinnt.Diese Stimmung ändert sich allmählich.

3. England mobilisiert nach Bekanntwerden des Ultimatums seine Flotte.

4. Sir Ed. Grey will eine Botschafterkonferenz zur Regelung des österreichisch-serbischen Streitfalles.

5. Sir Ed. Grey erklärt am 29., dass England auf Seiten der Gegner Deutsch-lands kämpfen wird.

6. Drei Mitglieder des englischen Kabinetts sind gegen den Krieg mit Deutsch-land und treten aus.

Auch diese Tatsachen sind bekannt. Sie enthalten nichts, was unsere bisherigenKenntnisse über den Kriegsausbruch verschieben könnte. Immerhin sind einigePunkte bemerkenswert: Lichnowsky weiss mit keinem Wort etwas über vorzeitigedeutsche militärische Massnahmen zu berichten. Die Darstellung in den Entente-quellen, die Deutschland vorzeitiger militärischer Massnahmen beschuldigt, ist durchLichnowsky nicht zu belegen. Das ist sehr wichtig. Lichnowsky, so sehr er auchund mit Recht den Berliner Optimismus verurteilt, erklärt andererseits, dass manin Berlin und Wien nicht die tragischen Folgen des Ultimatums an Serbien voraus-sah, sondern an eine Beilegung des Konfliktes glaubte. Und endlich: Lichnowskymacht sich nicht die bekannte englische These zu eigen, der zufolge England infolgeder Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland in den Krieg getretensei. Der belgischen Frage legt er überhaupt keine Bedeutung bei, vielleicht weiler den englischen Standpunkt in der Frage der belgischen Kolonien zu genaukannte. Nach der Darstellung Lichnowskys spielte die belgische Frage keine Rollein dem Entschluss Englands, in den Krieg einzutreten, der vorher bereits aus derBündnispolitik Englands erwachsen ist.

Es ist eine seltsame Ironie, dass derAnglomane Lichnowsky, der deutscheHochverräter in diesen wesentlichen Punkten der amtlichen deutschen Thesegewissermassen zu Hilfe eilt. Hatten wir so Unrecht, wenn wir sagten, dass dieärgsten Führer der Lichnowskyhetze die Denkschrift wahrscheinlich nie gelesenhaben ?

Als Beitrag zur Geschichte des Kriegsausbruches sind diese kurzen Angaben,die der betreffende Teil der Denkschrift enthält, wie man sieht, nicht ohne Wert. Wasdie Schuldfrage betrifft, ergibt sich vor allem zu Englands Ungunsten der Wegfalldes berühmten belgischen Motives, zu Deutschlands Ungunsten nur die Ablehnungder Botschafterkonferenz. Wenn man gerecht urteilen will, muss man aber zugeben,dass gerade die Lichnowskysche Denkschrift diese Ablehnung erklärlich macht. DieKonferenz, die über Oesterreichs Forderungen zu entscheiden hatte und auf derOesterreich nicht vertreten sein durfte, sollte von Grey präsidiert werden, der sichals treues Glied der Entente erwiesen hatte. Sie sollte sich zusammensetzen ausdem französischen Botschafter Cambon, der mit Grey das Geheimabkommen unter-

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