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gilt seine tiefe Abneigung, den zweiten seine Bewunderung. Die Männer, die diedeutsche Politik machen, werden eigentlich nur als Gesamtheit gezeichnet. Einliebevolles Eingehen auf ihr Leben gönnt der Fürst ihnen nicht. Aber doch gleiteneinige deutlich gesehene Persönlichkeiten an unserem Auge vorüber. Dem Kaiserverleiht Lichnowsky immerhin sympatische Züge. Darf man ihm glauben, so istder Kaiser ohne Einfluss, und die Politik wird gegen ihn gemacht. Herr vonBethmann wird mit wechselnden Gefühlen behandelt, Pourtales und Tschirschky,vor allem der tote Bismarck, kommen recht schlecht davon. In sehr unvorteilhafterWeise wird das Auswärtige Amt als Gesamterscheinung geschildert. Nach derAnsicht Lichnowskys bringen die hohen Reichsbeamten ihre Zeit mit schikanösenErlassen und Intriguen gegen ihren Londoner Vertreter zu. Das vorherrschendeGefühl im Amt ist die Wut über Lichnowskys Erfolge, eine Wut, die er „unbe-schreiblich“ nennt! Die politischen Fähigkeiten der Herren sind gering. Sielassensich blind von Oesterreich regieren.
Wollen wir hier die Erbitterung Lichnowskys gegen seine Feinde im Auswär-tigen Amt in Betracht ziehen, so müssen uns allerdings, angesichts seiner Liebefür alles Englische und seiner Bewunderung für die englische Diplomatie, dieSchattenseiten umso bedenklicher stimmen, die sein viel ausführlicheres und inzusammenhängender Weise geschildertes Londoner Bild aufweist.
Nach Lichnowsky bedarf es keiner Kenntnisse, sondern nur grossen Reichtumsum England zu regieren. Trotz der liberalen Parlamentsmehrheit beherrscht derkonservative Adel mit seinen Damen das Land. Die Geschicke der Nationen werdenin den Salons gemacht. Sport, Spiel, Gastmähler: das ist die Atmosphäre, in derdie herrschenden Kreise Englands leben. Der Ministerpräsident kümmert sich umdie Frauen und die Küche, nicht um auswärtige Politik, die ihn überhaupt nichtinteressiert. Die auswärtige Politik des demokratischen Landes wird fast ausschliess-lich von dem Staatssekretär am Foreign Office gemacht. Das Parlament als mass-gebenden Faktor kennt Lichnowsky nicht. Der Leiter der auswärtigen Politik kenntnicht das Ausland. Er versteht zwar französisch, spricht es aber nicht! Vom Volkeist in alle dem keine Rede. Selbst M. Bums, erzählt Lichnowsky, „Sozialist, Arbeiter-führer und Autodidakt, suchte Fühlung in der Gesellschaft“. Ein hervorragenderKopf, wie Lloyd George , bleibt in diesen Kreisen eine Ausnahme. Er ist ein „kleinerAdvokat“.
Die hier kurz angedeuteten Schilderungen der Denkschrift sind charakteristischund vielsagend genug, als dass es nötig wäre, sie besonders hervorzuheben, lnihnen finden wir mehr Aufschluss über die wahren Ursachen des Krieges als inden Spitzfindigkeiten diplomatischer Chinoiserien. Eine eitle, unwissende, dafürumso lustigere, liebenswürdige Lebewelt, eine Welt ohne moralische Grundsätze,das sind die paar Männer, die 1914 Weltgeschichte machten. Aufschlussreicher alsein Blick in ihre krausen Schriftzüge, ist ein Blick auf ihr Portrait, so wie es einerihrer Bewunderer malte.
D. Die Entwicklung des Krieges und die Zukunft Europas .
‘ In seiner Betrachtung über die Zukunftsfragen lässt sich Lichnowsky ebensosehrwie bei seiner Charakteristik der leitenden Kreise in Deutschland und England durch Abneigung auf der einen und Bewunderung auf der anderen Seite leiten.Aber auch hier erweist sich, dass Sympathien kompromittierender sein können alsAntipathien.