Darum ist nicht alles, was nach Plagiat aussieht, als solcheszu werten. Um nur ein Beispiel anzuführen (worauf bereitsfrüher hingewiesen wurde): Die „Marcelle" von VictorienSardou hat eine reiche Ahnengalerie aufzuweisen. Es handeltsich hier um die Geschichte eines galanten Ritters, der sich zumRitter der Ehre einer Schönen, die sich schuldig glaubt, auf-wirft, bis deren Unschuld schließlich ans Tageslicht kommt.Sardou nahm sie direkt aus dem Tancrede von Voltaire ,der das Sujet aus der „Comtesse de Savoie" der Madamede Fontaine sich auslieh, die wiederum auf „Siege deCalais" der Madame de Tencin fußte. Diese schöpfte ihrer-seits aus den drei Komödien des 17. Jahrhunderts der „Madonte"von D ' A u v r a y , der „Madonte" von La Charnaye undder „Polyxene" von B e h o u r t. Aber auch diese drei sindnicht die Erfinder der Situation, sondern hatten die „Astree"von D ' U r f e als Vorbild. Urfe fand wiederum diese Geschichtein der 6. Erzählung des italienischen Novellisten Bandello ,der sie seinerseits dem „Rasenden Roland " von A r i o s t o ent-nahm 113 ). Es wäre lächerlich, hier die Frage des Plagiats über-haupt erst anzuschneiden, ebensowenig könnte man das bei-spielsweise bei Heinrich von Kleists Novelle „DieMarquise von O ...", die in ihrer Urform bereits im altenP i t a v a 1 und bei Montaigne steht, tatsächlich jedoch den„Cent nouvelles nouvelles" der Frau vonGomez entnommenist 114 ) oder bei Maeterlinck , der, wie er auch zugestand,für sein Drama „Maria Magdalena" zwei Situationen aus PaulH e y s e s Schauspiel „Maria von Magdala " entlehnte, und zwardie Rettung der in Gefahr der Steinigung befindlichen Magda-lena durch Christus und dann den inneren Konflikt der großenSünderin, ob sie den Herrn retten und sich preisgeben oder ihnverderben, aber sich reinhalten soll.
113 ) Raoul Deberdt, Les grands plagiats du siecle, in: La Revue desRevues, Vol. XXVIII, 1899, S. 284/85.
114 ) Rieh. Maria Werner, Kleist's Marquise von O ... in: Vierteljahres-schrift für Literaturgeschichte, hrsg. v. B. Seuffert, 3. Bd., Weimar 1890,S. 483 ff.
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