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Man würde sich aber nichtsdestoweniger eines großen Irrthumsschuldig machen, wenn man den Grad der Reife des deutschen Vol-kes ausschließlich von dem Gesichtspunkte aus beurtheilen wollte, .welchen wir so eben aufgestellt haben. Dieses persönliche und mon-archische Regiment von oben und diese Fügsamkeit von unten (inPreußen ebenso wie, für das bloße Auge nur weniger sichtbar, inden Kleinstaaten) bestehen neben einer geistigen Entwickelung undeinem allgemeinen Sittlichkeitsgefühl, über die sich kein anderes Landder Welt erhebt. Der Staatsmann, dessen Erfolge den guten Ruf derNation aufs Spiel setzten, ist sicherlich am wenigsten dazu geneigt, ihrdiesen inneren Werth zu bestreiten. Er sprach sich einmal in seinersarkastischen Weise darüber aus, als er in einem parlamentarischenAusschuß die Behauptung aufstellte, daß Deutschland vielleicht zu weitvorgeschritten sei, um eine Verfassung zu ertragen. Aber was er beiseiner ungeduldigen Thatenlust und seinem praktischen Wesen vorAllem ins Auge faßte, das war der eben obwaltende stakns <iuo.Diese energische, vielleicht übertriebene Würdigung der von Natur dermomentanen Sachlage inwohnenden Macht, bildete den lebhaftestenGegensatz zu der Anschauungsweise einer wesentlich idealistischen Op-position. Je mehr sich ein Volk in Geistesarbeit vertieft, desto mehrläuft es Gefahr, die Stärke der bestehenden Bande, welche es an seineVergangenheit fesseln, und die in überlieferten Zuständen begründetenGewalten zu unterschätzen. Der an Zahl sehr beträchtliche aufgeklärteTheil der Nation hatte, mit dem Wissensdrang und den: weltbürger-lichen Sinn, die ihn kennzeichnen, nicht allein sein eigenes Lebensondern auch das Leben aller anderen Kulturvölker mitgelebt.Nachdem es mit dem Gedanken sich an allen großen reformatori-schen Bewegungen betheiligt, glaubte Deutschland die unterbrocheneArbeit der allgemeinen Befreiung an dem Punkte aufnehmen zu kön-nen, wo die Anderen sie hatten fallen lassen. Aber der volkswirth-