62 Drittes Kapitel.
halbe Stunde dauert. Gegen Ende der ersten Stunde wird manwarm, innerlich und äußerlich. Die Parlamentssäle und gar dieoft niedrigen Tanzsäle der ländlichen Volksversammlungen, mitMenschen angepfropft, erzengen eine böse Temperatur. Ich binbei Bergbesteigungen selten in so starke Transpiration gekommenwie bei mehrstündigen Reden. Da nun der Schluß so wichtigist, so entspricht es der oratorischen Vorsicht, möglichst wenig dabeider spontanen Produktion eines überheizten Gehirns und er-müdeten Körpers zu überlassen. Man muß mit Sicherheit inihn hinübergleiten können, statt ihn mit der letzten Kraft zn im-provisieren, mit Behagen die Hand nach dem festgelegten Vorratausstrecken und sein Panier aufpflanzen. Allerhand Zwischenfällekönnen dieser Vorbereitung Hindernisse in den Weg legen, abermit ein bischen Gewandtheit läßt sich das leicht wieder einrenken.
Es wird selbst einem geübten Redner bei einem langen Vortragäußerst selten gelingen, daß er von dem, was er sich im vorauseingeprägt, nicht eines oder das andere vergäße. Solche Resterfinden sich meistens, wenn man hinterher seinen Denkzettel nach-liest. Manchmal überspringt man auch absichtlich einen Gedanken,der in die Reihenfolge eingestellt war. Denn erst der Momententscheidet über die Opportunist. Es giebt Einfälle, die, voransgedacht, sehr glücklich erscheinen in dem Momente der Konzeption,und die einen Mißton hervorrufen würden, wenn man sie imentscheidenden Augenblick anbrächte. Ein geübter Redner wirdsich immer mit einigen Pointen versehen, um von Zeit zu ZeitLeben in seinen Vortrag zu bringen, aber er darf sich nicht ver-führen lassen, damit herauszukommen, wenn die Stimmung nichtdazu paßt, z. B. mit einem Witz, wenn sich Ernst über dieGesellschaft gelagert hat, oder umgekehrt. Ein solcher Verzicht istauch kein großes Opfer. Was man einmal nicht verbraucht, kannein andermal dienen. Ein guter Witz ist ein gern gesehener Gast.Aber witzige Reden zn halten, wird für den Redner auf die Längeverderblich. Es setzt ihn, trotzdem man seine Fähigkeit aner-kennt und sich daran ergötzt, um einen Grad herunter. DerMensch, besonders der in Massen uud ganz besonders der deutscheMensch, will ernst genommen sein. In den Jahren nach 1866,wo ich, bei eben so viel Lust und Frische, wie im Jahre 1848,