128
Drittes Kapitel.
geht auch durch die inzwischen vom Bischof Ketteler und von denNachfolgern gänzlich dominierten katholischen Massen ein starkerZug demokratischer Gesinnung. Aber den besten Stamm der radi-kalen Parteigänger lieferten uns damals die protestantischen Ge-meinden. Ober-Jngelheim, in dessen Weichbild die Pfalz Karls desGroßen gestanden hatte, ging allen vor. Aus den roten Sandstein-trümmern dieser ehemaligen Herrlichkeit haben wir manche unheiligeRede gehalten und halten geholfen. Ärzte, Friedensrichter, Notarestellten eine splendide Gastfreundschaft dem Apostolat zur Verfü-gung. Unter den Ärzten war ein junger Mann, mit dem ich michbesonders befreundet hatte, mit Namen vr. Gieswein. Er warein liebenswürdiger, lustiger Kamerad mit ein paar menschen-freundlichen, veilchenblauen Augen im hellblonden Kopf, die schonallein jedes Herz gewinnen mußten. In kinderloser Ehe bewohnte ermit seiner Frau, einer Mainzerin aus gut katholischer Familie,ein reizendes Haus mit Garten an dem nach dem Rhein ab-gedachten Ausgang des Ortes. Da hatte ich immer mein Zimmer,und noch heute kann ich keinen aus Reseda und Levkojen gemischtenDuft einatmen, ohne an die einfache, aber wohnliche Stube zudenken, in welcher immer das Sträußchen im Glase für mich aufdem Tische stand. Der Mensch bekommt im Leben noch viel zuriechen, Schönes und Unschönes, aber solch einen Wonneduft, wie zujener Zeit ans dem bescheidenen Blumenglase mich empfing, wennich aus der Stadt nach der ländlichen Wohnung entfloh, habe ichnie mehr eingeatmet.
Die Praxis meines ärztlichen Gastfrenndes ließ sich aufsnützlichste und angenehmste mit den Aufgaben meiner politischenThätigkeit kombinieren. Der Doktor mußte täglich die Dorsfchaftenin weitem Umkreis besuchen. Sein elegantes, mit einem schönenSchimmel bespanntes Kabriolet kutschierte er selbst. Ich nahm anseiner Seite Platz, und so fuhren wir kreuz und quer durch diefruchtbaren und behäbigen Gefilde der Pfalz , immer heitren Sinnes,immer von freundlichen Menschen begrüßt und bewirtet.
Während der Arzt seine Kranken besuchte, sprach ich bei denpolitischen Freunden vor und verständigte sie über die nächsten zurBelebung der Parteiorganisation nötigen Maßnahmen. Die Frischennd Wohligkeit des ganzen Treibens, ein wahres Idyll mitten im