152
Drittes Kapitel.
kommen, der Mutter selbst, der jetzigen Welt, das Leben zu kosten: inder Angst um die Kreisende, in der Ungewißheit über die Lebensfähigkeitdes neuen Geschöpfes, folgte man der ärztlichen Regel und entschied imZweifel der Wahl für das Bestehende gegen das Werdende, für dieMutter gegen das Kind. Das Kind wurde über dem Akte der Geburtzerstückt, um den Leib der Mutter zu erhalten. Die Revolution starban ihrer eignen Größe. Jetzt begraben sie die blutigen Stücke desRiesenkindleins, und die überlebende Mutter, die alternde Welt, siezittert noch ängstlich ergriffen hin und her zwischen der Freude um daserhaltene Leben und der Trauer um das geopferte Kind."
Der jungen Frau von Zabern, die natürlich jeden Tag dieZeitung las, hatte dieser geburtshelserische Realismus begreif-licher Weise einen schauderhasten Eindruck gemacht, und ihr guterGemahl hielt mir halb in ernster, halb in lustiger Tonart eineStrafpredigt über das Thema: wie ich Gelbschuabel dazu komme,mit solchen Bildern aus den intimsten Vorgängen des Geschlechts-lebens Staat zu machen. Aber über solche Prüderie war selbst-redend meine Vorurteilslosigkeit turmhoch erhaben, und ich be-lächelte nur nachsichtig die ehrbare Kritik.
Sehr getreu spiegelt sich in einem der folgenden, diesen Nacht-gedanken gewidmeten Leitartikel der Zustand der Dinge und derGemüter jener Epoche ab. Das Thema ist: kein Mensch glaubtau den Bestand dessen, was im letzten Jahr geschaffen worden,und mit dessen Ausbau man fcheinbar noch beschäftigt ist. Mankönne nicht sagen, heißt es da u. a., daß das Volk gleichgültigsei für politische Dinge; im Gegenteil, das politische Urteil undder politische Sinn haben unendlich mehr Boden, als zur Zeitder ersteu Bewegung:
„Aber das Eigentümliche ist, daß niemand an den Ernst der gegen-wärtigen Unternehmungen glaubt. Wie nahe liegt die Möglichkeit, daßin vier Wochen ein deutscher Kaiser proklamiert sei, und man suche jetzteinmal unter groß und klein einen Menschen, der nicht mitleidiglächelte, wenn man ihm vom künftigen deutschen Kaiser spricht. Selbstdas bischen Enthusiasmus, das bei Eiusehuug des Reichsverwesers ausalle» Luugeu geblaseu wurde, wie kläglich ist es verraucht! HerrRaveaux schämt sich zu Tode, daß er mit Extrapost nach Wien gefahrenist, nm den vermeintlichen Vaterlandsretter im Triumphe abzuholen,und wenn man fragen wollte, wer bei dem Kölner Domjubel Vivatgeschrieen (Zusammenkunft des Erzherzogs Johann mit dein König vonPrenßen), es würden sich wohl keine zehn Leute melden."