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Siebentes Kapitel.
bringe» können, zählen wie im vorigen Jahrhundert so im gegen-wärtigen beinah ausnahmslos znr galanten Welt. Die philo-sophischen Sonpers, bei denen die Sterne der Encyklopädie sich umdie Sterne der Halbwelt sammelten, bilden einen anziehenden Be-standteil der Memoirenlitteratnr, und eine der hübschesten Kleinig-keiten der Mussetschen Muse ist die Erzählung seines Abendsbei der Rachel.
Man beurteilt das französische Naturell falsch, wenn man die,namentlich ans dem Hintergrund von Paris so stark überwucherndeErscheinung der freien Liebe einseitig als die Herrschaft des Un-sittlichen ansieht. Die Sitteulosigkeit ist selbst nur eine Seiteund ein Produkt des allmächtigen Anteils, welchen die Lebhaftig-keit des geschlechtlichen Sinnes am Leben der Nation hat.
Natürlich führt diese Anlage auch mehr zn Exzessen nud zunnverhüllterem Auftreten derselben. Aber dieselbe konstitutionelleEigenschaft erstreckt ihre Allmacht anch in die Kreise des geordnetenund gesitteten Lebens hinein.
Man hat ganz mit Recht oft genng der oberflächlichen Ansichtwidersprochen, als stehe das französische Familienleben überhauptunter dem Zeichen der Sitteulosigkeit, das iu Romanen, in denTheaterstücken, und im augenfälligen üppigen Straßenlebeu vor-herrscht. Es giebt in Frankreich nicht weniger redliches Familien-glück als bei anderen Nationen, ja die Bande der Blutsverwandt-schaft halten, soweit ich beobachten konnte, die einzelnen Mit-glieder einer Familie, nachdem sie dem elterlichen Hause entwachsensind, mehr zusammen, als etwa iu Deutschland .
Ein, wenn auch nur äußerliches, doch recht bezeichnendesSymptom spricht z. B. aus dem Brauch, bei Todesanzeigen dieeinzelnen Verwandten bis in den dritten und vierten Grad derSeitenlinie mit Namen und Stand aufzuführen, wo in Deutsch-land die namenlosen Hinterbliebenen meist im Dnnkel bleiben.
Man hat sich öfter darüber lustig gemacht, daß in der fran-zösischen Gefühlsromantik die Mntter, m», msi-s, eine stereotypeRolle spiele.
Aber es liegt ein wahrer Zug zu Grunde, uud man gehtvielleicht nicht fehl, wenn man aus der Anziehungskraft, welche