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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
Entstehung
Seite
81
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Bo'ttichers Tektonik der Hellenen.

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die Bemalung überall den Inhalt der Formen erläutert habe, wodie plastische Gliederung fehle. Er schuf sein System ohne Griechen-land gesehen zu haben, auf Gruud einer gegen die Zeit Schinkelserweiterten, immer aber noch sehr bescheidenen Zahl von zeich-nerischen Anfnahmen alter Bauten und in der Voraussetzung, das;sehr früh, nachdem die hellenische Kunst als ein Fertiges von derNation geboren war, der Verfall eingetreten sei. Er machte die Durch-führung seiner Lehre nur dadurch möglich, daß er alles, was nichtin sie hineinpassen wollte, für unfertig, verderbt oder für schlechteZeit erklärte. Die Schulmeisteret des Idealismus der Zeit wurdedurch ihn auf den Höhepunkt gebracht. Es gab für ihn überhauptin der ganzen Welt nur ein paar Bauten, diegut" seien.

Die griechische Form ist für Bötticher die Verkörperung oderplastische Darstellung eines inneren Begriffes im Raum. Das istjedeusalls tiefer gesaßt als die ältere Ansicht, daß die Architektur-form, ich möchte sagen das Rudiment eines früheren Zweckes sei,daß sich also der Fuß einer Säule zur Wurzel eines Baum-stammes annähernd verhalte wie die Brustwarze des Manneszur milchspendenden der Frau. Architektonische Kernform nenntBötticher jene, welche die eigentlichen Zwecke des Tragens,Stützens u. s. w. erfüllt, in ihrer Nacktheit die ihr zugewiesene Auf-gabe im Bau erledigt. Um diese müsse sich aber eine Hülle, eineschmückende Bekleidung und äußere Darstellung (charakteristischeAttribution) legen, welche den Zweck hat, die vom Kern verrichteteArbeit zu versinnlichcn. Sie ist also die sinnbildliche Darstellungdes Zweckes nnd soll die Verbindung mit dem anschließenden Ban-teil (Junktur) und die Beziehung beider zu einander ktarlegen.Diese Sinnbilder gewinnt die griechische Kunst aus den im Lebender Griechen vor Augen stehenden Körpern, die ähnliche Zwecke er-füllen. Das Vorbild wird somit zum Schema, erzeugt eineFormensprache, welche volkstümlich war, vom gleichzeitigen Geschlechtedurchweg verstanden ward. Durch Verknüpfung vieler folcher Sinn-bilder wird die Formeinheit des Bangliedes, durch Verknüpfung allereinzelnen Bauglieder die Formeneinheit des ganzen Banes hergestellt.Die schmückende Hülle ist entweder bildnerisch oder malerisch her-gestellt worden. Sie ist nie willkürliche Verbrämung, nie von

Gurlitt, IS. Jahrh. 6