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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Die Gotik als kirchliche Kunst.

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Gottes. Das Schönste war eben ant genug für den höchsten Zweckder Baukunst. Das Schönste aber war ihr der griechische Tempel.Daher hatte der Künstler diesen zn wiederholen, wollte er einevollendete Kirche schaffen. Die Madeleiue in Paris ist ein Zeugnisdieses Idealismus, dieser stärksten Hingabe der Kuust an die Schön-heit. Weuu die Börse in Paris nun auch für sich künstlerischeVollendung forderte, so ergab sich, daß Börse und Kirche äußerlichdieselbe Form erhielten. Dem gegenüber, um diesen Erscheiuuugeudes klassischen Geistes auch im Kirchenbau zu widerstreiten, thatendie Katholiken recht, im Mittelalter Hilse zu suche». Dort fandensie einen klar und verständig aus den liturgischen Forderungenentwickelten Grundriß: fanden sie Formen, die zwar zunächst alsminder rein, minder vollendet, als menschlicher empsunden wurde»,die aber rasch die Gemüter der Gebildete» für sich einnahmen. Wohlwar die Antike bei den Kennern nnd durch diese in den Massenzur Mode geworden, hatte sich der Volksgeschmnck mit ihr ausgesöhnt,so daß bis in die Tiefen, mindestens bis in den Kleinbürgerstaudantike Formen geliebt und geschaffen wurden. So tief hat die Neu-gotik uie im deutschen Volke Wurzel gefaßt. Die Bemerkung Sempers,daß das deutsche Baueruhaus keine Spuren von gotischer Kunst ansich trägt, ist durch eiugeheudere Forschungen nur bestätigt worden.Es hat sich durch die Neugotik noch weniger beirren lassen. Denudiese blieb im Jagdschloß der Adligen, in den Villen romantischgestimmter Bürger und in die Kirchen gebannt, trotz allen Be-mühungen tüchtiger Künstler; man empfand fie in allen deutschenLanden, vielleicht mit einziger Ausnahme von Hannover , als ge-schichtlich, als altertümlich; sie wuchs bei uns nie und nirgendszum Volksgeschmack aus wie iu England . Der Idealismus der Zeitmachte sich damals und macht sich noch heute als beschränkenderGeist geltend: Wie nur ein bestimmter Stil des Mittelalters, undzwar der trockenste und regelrechteste nnd selbst aus diesem mir be-stimmte zirkelgerechte Formen auf den Thron des als vollendet zuVerehrende« gehoben wurden, so wurde auch eine bestimmte Grundriß-anordnung als die richtige, als die zn erstrebende bezeichnet. DieseEinseitigkeit des schönheitlichen Empfindens ist nicht neu: Jederin ihren rückwärts liegenden Zielen abgeschlossenen Zeit ist sie