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VI. Die historische Schule.
Trägern eines Volksgedankens, einer nationalen Eigenart nichtgram werden können. Denn nur der Unverständige, der in Grund-sätze Eingekapselte erwartet von dem Einzelnen mehr als Ausdruckseiner Zeit und seines Volkes. Die Franzosen würden Bismarcks Größe verstehen, wenn er eines Tages seine Macht benutzt hätte,um zehn Nachbarn eigenhändig zn erwürgcu uud deren Güter ansich zu reißein weun er Kaiser Wilhelm I. Gift gegeben hätte, ummit irgend einer Prinzessin eine Nacht leidenschaftlicher Liebe zu ver-leben; oder wenn er nach Jahren Gefängnis in Ketten mit einemWorte über die Brüderlichkeit aller Menschen gestorben wäre. DerMann aber, der seine Pflicht thut, sagt, was nötig ist und nichtmehr, seiner Frau treu ist und kein romantisches Erlebnis hatte,der ist ihnen noch heute nnkünstlerisch, den verstehen sie nicht, siekönnen ihn nicht als ungewöhnlich nehmen. Er ist ihnen ein Durch-schnittsmensch, mag er so groß sein-wie er will; denn ihm fehltdas Nervenerregende!
Die deutschen Verhältnisse waren viel zn eng, das deutscheLeben viel zu spießbürgerlich, die deutsche Denkart doch noch zunervenstark und, wo ihr die Kraft fehlte, nicht thatenhungrig,sondern ruhebedürstig, als daß eine ähnliche Romantik bei un5hätte lange Boden finden können. Es ist naturgemäß, daß beiuns die Folge der Zeitkrankheit Stille wurde; das deutsche Genre-bild ist das Gegenstück zur französischen Mordbegebenheit; dieFranzosen betäubten ihre Unruhe, die Deutschen lullten sie ein.Jene gingen in die Gerichtssäle, aus den Markt; diese in die Kinder-stuben, aufs Land; jene suchten Anregung, diese Erholung; beidenwar dort nicht wohl, wo der gleichmäßige Hammerschlag der männ-lichen Arbeit dröhnte.
In Deutschland hatte das Neue, das romantische Empfindennur iu die Dichtung stärkere Erregungen gebracht. In der Knusthatte es sich in die Bande einer sanften Religiosität zurückgezogen.Der Most gebärdete sich nicht stürmisch bei uns, der Kampf bliebin stillen, gemäßigten Formen.
Die dreißiger Jahre lenkten Deutschlauds Blick vou Rom fort,wo die deutsche Romantik in so stille Gleise geführt worden war,und wiesen ihn auf Paris . Die dort ausgefochtenen künstlerischen