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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Kritik des gesunden Menschenverstandes.

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Der gesunde Menschenverstand freilich ist gegen ein Bild, ausdem Christus in das Zimmer eines modernen Arbeiters tritt, aneinen Tisch, über dem die Petroleumlampe hängt. Man soll nicht all-zuviel aus diesen Menschenverstand pochen. Wenn ein Rind sein ganzesLeben lang grünes Fntter fraß, so sagt mir mein Menschenverstand,von dem auch ich glaube, daß er gesuud sei, daß es auch inwendiggrün aussehen müsse. Erst dnrch das Schlachten haben wir er-fahren, daß Blnt und Fleisch rot gefärbt sind. Warum das fosei, hat bisher der Verstand aller Verständigen noch nicht heraus-gebracht. Weil oxydiertes Eiseu rot ist und die Blutkörpercheneisenhaltig sind, sagen die Ärzte. Aber warum ist Eisen rot? Dasist Erfahrung auf Erfahrung gehäuft, uicht eiu Erkennen vonGründen dnrch den Menschenverstand. Mit dieser trügerischenWnsse kommen wir selbst in der Wissenschaft nicht weit, wenn diedeu Verstand nnr zn oft ans Fehlgriffen überraschende Beobachtungnicht die Gedanken leitet. Die Becher der Knnst aber wird manvergeblich mit dem Fluten des Verstandes zu füllen suchen. DieSixtina kaun nicht auf Wolkeil stehen, wenn sie so körperlich ge-bildet ist, wie Rafael sie malte; die Heiligen können es noch weniger;das Christkind hat Körperformen, die unkindlich find; Christus kamübrigens als Mann, nicht als Kind in den Himmel; es ist eineThorheit, Rafael zu glauben, daß der heilige Sixtus im Himmelim Kirchenornat hinter einem grünen Vorhang gekniet habe. Kurzund gut: nach dem gesunden Menschenverstand ist das ganze Bildeitel Unsinn; nur ein solcher, den wir zn dulden uus gewöhnt haben.Ja, ich möchte glauben, der Verstand, der gegen Uhde spricht, seiim Grunde weiter nichts als Plattheit; es sei recht gleichgültig,ob der Maler historisch oder nach der Überlieferung treu den Vor-gang darstelle, wenn er nnr das, was in ihm lebt, erschöpfendwiedergiebt, und wenn das Wiedergegebene nur des Malens undBetrachtens wert ist.

Wer ist Richter darüber, daß dies bei Uhde der Fall fei!Jener, der nicht ergriffen wird von der Kraft des Bildes, oder der,der ergriffen wird? Eine Predigt ist gut, ob sie gleich Viele nichtverstanden, wenn sie nur einen packt. Und haben wir nicht zuoft schon erlebt, daß, was einst verkehrt, uuschön, feindselig der