Druckschrift 
Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
Entstehung
Seite
571
Einzelbild herunterladen
 
  

Tonmalerei. Armeleut-Malerei.

571

erster Linie Naturnachbildung; was wider die Natur sei, müsse widerdie Kunst sein; sie malten absichtlich dein Gesetz Widersprechendes.

Das Geschichtsbild war das Bild der Großmaler, das Sitten-bild jenes der Feinmaler gewesen. Die Nenen schnfen das Sittenbildin riesigem Maßstab und warfen das Geschichtsbild ganz über denHausen. Lebensgroße Darstellungen eines Arbeiters in Bluse undHolzschuhen, eines Bauern auf Nckergäulen, wie sie etwa FranzSkarbina und Leopold Graf Kalckreuth malten, brachten dieAlten am allermeisten in Harnisch. Die Armeleut-Malerei, diesich auf großen Leinwanden erging, die Darstellung von allerleiElend uud Verbrechen, ohne den einst für unerläßlich geltendenversöhnenden Ausgang, empörte selbst die Politiker, also Leute, diebei uns berufsmäßig nichts von Kunst verstehen. Die Landtagewurden gegen die Socialdemokratie in der Kunst rebellisch. DiePfarrer jammerten hell auf, daß das Volk verderbt werde. DieMünchener Fliegenden Blätter, die besser wußten, wie es bei denKünstlern aussah, höhnten die Maler als Gigerl, die in der Kuust ihreExtrawurst suchten; die junge Kritik bewies, daß es die Liebe znm Volkesei, die hier endlich Ernst mache mit der Darstellung des Volkes.

Ein Hexensabbat! Vieles, was sich der Realismus mit sauremSchweiße errang, hat er nachmals als gleichgültig wieder fallenlassen. Mancher einst Angestaunte erwies sich später nur als Mit-läufer. Ich glaube nicht, daß die Zahl der großen Begabungenstärker war als in früherer Zeit. Aber das Anzweifeln alleralten Kunstwerte brachte ein nochmaliges Durchdenken im künst-lerischen Sinne, ein Aufrütteln mit sich, das der Kunst ge-waltige Vorteile schuf; Vorteile, die jenen zu Anfang des Jahr-hunderts durch das Durchdenken der Kunstziele im philosophischenSinne zum mindesten die Wage halten. Das wird heute auchkein Alter mehr leugnen wollen, selbst wenn er im Umschwungden Verfall sieht. Die deutsche Kunst ist so anders geworden,daß man heute vou Cornelius nicht mehr als von einem modernenMeister sprechen kann. Einst glaubte man, ums Jahr 1800 seidie moderne Kunst geboren, jetzt wird sich die Erkenntnis immerfester setzen, daß der große Abschnitt, wenn ein solcher thatsächlichzu verzeichnen ist, siebzig, achtzig Jahre später erfolgte.