Wallot und die geschichtlichen Stile. — Licht. — Schwitz. 641
Verteilung erlernt, er fürchtet sich nicht mehr vor ungegliedertenFlächen und vor dem außerordentlichen Maßstabe der Gebilde.
Das Entscheidende am Reichstagsbau ist die Behandlung derTeile, deren Entwurf erst in den spätereil Jahren der Bauaus-führung erfolgte. Sie werden immer größer und selbständiger,namentlich die Behandlung der Schmuckformen steigt zu immerentscheidenderer Bedeutung. Wallot fand ein neues Gesetz derSchmuckverteiluug: Er suchte im Raume den wichtigsten Punkt,auf den unwillkürlich die Augen sich richten, und dekoriertevon hier aus die Umgebung. Nicht durch ein gleichmäßiges Um-spinnen mit Formen, sondern dnrch entschiedenes Betonen desWichtigen und durch eine sichere Beherrschung der Flächen. DieErkenntnis, daß die glatte Wand ihre architektonische Bedeutunghabe, ist eine seiner wichtigsten Entdeckungen. So im Treppenhausfür den Bundesrat, in der Eingangshalle: die Wirkung der Gegen-sätze kam wieder zur Anwendung. Wallot schuf Einzelheiten voneiner Vollsaftigkeit und einer Wucht der Schmuckformen wie keinervor ihm, aber er setzte sie in still wirkende Räume; das Kostbare,Prunkende neben das einfach Große, beiden zum Vorteil.
Die ersten Entwürfe Wallots für das Äußere waren in einemRenaissancestil gehalten, der sich nicht wesentlich von den üblichenFormen unterschied. Bei der Durchbildung des Planes kam es zueiner immer stärkeren Betonung der aufsteigenden Linien zu einerentschiedenen Durchbrechung der Oberherrschaft des Hauptgesimses.Ein gotisches Empfinden drängt sich in den Bau uud durchsetzt diealte Form in einer Weise, daß vielfach ein ganz Neues entsteht.Wallot ist erst an seinem Bau reif geworden; das Gerippe an diesemist das unselbständigste, in der Durchbildung ist seine Eigenart erstherausgetreten. Könnte er den Bau nochmals von vorne anfangen,fo würde er wahrscheinlich noch viel stärkere Stilmischuugen, eiunoch freieres Verhältnis zur alten Kunst zeigen.
Während im Äußeren noch die klassische Formensprache denEutwurf beherrscht, wurde er im Innern auch stilistisch frei. Das,was so viele vor ihm erstrebten, das Modernsein, führte er ohueGewaltsamkeit durch. Der ueue Stil wurde von ihm uicht erfunden,denn neue Stile sind nicht erfindbar, aber er durchsetzte die alteu
Gurlitt, 13. Jahrh. 41