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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Die Engländer. Neue Kunst.

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Die Wiener können sich beruhigen. Es ist diese Liebe nur einÜbergang. Es geht ein stark revolutionärer Zug durch das Kuust-gewerbe, ähnlich jenem des malerischen Realismus. Einer der meistgenannten Vertreter dieser Richtung, van de Velde, ist der Meinnng,bevor nicht das Gegenwärtige zerstört werde, werde die Kunst in nenerForm nicht zum Licht aufsteigen; werde dem Boden der Arbeit dieBlume nicht erblühen. Völliges Vergessen der alten Stile ist seinGrundsatz. Das verbrecherische Spiel des Lebens mit dem Tode, wieer jede Renaissance nennt, müsse der Verachtung anheimfallen. Dieplanmäßige Ausstoßung der alten Stilformen ist das Ziel der neuenBewegung, der Grundsatz der ganzen Schule. Neu an ihnen ist imGrunde nur die Entschiedenheit des Wollens, der absichtliche Bruch mitdem Alten. Anden Erzengnissen von Obrist, Eckmann, Berlepschund anderen ist denn auch kein Anklang an vergangene Stile mehrzn finden, das lange Erstrebte ist auch im Gewerbe erreicht; dertausendfach wiederholte Borwurf, daß unser Jahrhundert eigenenStil nicht besitze, endlich am Schlüsse zunicht« gemacht!

Die Neue Kunst sucht neue Vorbilder, neue Anregungs-mittel. Entweder sind dies die Blumen, Pflanzen und Tiere, diemeist nnr im Umriß gezeichnet, in ihre einfachsten Formen zerlegtwerden. Oder es sind einfache Schnörkel, gelegentlich blattartigsich verdickende, vielfach geschwuugene Linien die Mittel, mitdenen jetzt die Formen gebildet werden. Nur der in die Gängedes Linienwerkes nnd in die Massen gelegte Ausdruck soll zum Be-schauer sprechen. Und er thut dies zweifellos für die, die sichin ihre Sprache einlebten, so sehr das Ganze Fernstehenden lächer-lich erscheinen mag. Ob es möglich sei, durch sachlich sinnloseLinien Vorstellungen zu erwecken, ist meiner Ansicht nach eineziemlich müßige Frage. Es spielen jetzt in den Zeitungen dieLeute eine große Rolle, die aus den Schriftzügeu die Artungdes Menschen lesen oder doch lesen zn können glauben. Es giebtBücher genug, die diese Kunst lehren. Wie die Schrift im Grundeeine Zeichnung ist, die Abweichungen des Einzelnen von der Lehreder Schreibvorlage, eigenartige Äußerungen eines unbewußten Em-pfindens, wie daher für den Kenner das Mechanische, Bildmäßige,außerhalb des niedergeschriebenen Wortes Stehende der Schrift, Ge-