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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Neuntes Kapitel.

16601990.

Je näher wir der Gegenwart kommen, desto schwieriger wird es, die Lineamente zu enträtseln. Goethe schreibt einmal an Schiller, nachdem er ihm von der Aufnahme des Fanstplans berichtet: nun sei er begierig, zu sehen, wie der Freund ihm seine Träume deuten werde. Können wir hier mehr als Träume deuten? Träume, die vielfach nur Schäume sein werden, oft aber anch Abspiegelungen und Vor­boten der Wirklichkeit? Nicht daß wir an jener alten Lehre fest­hielten, Litteraturgeschichte könne nur vonabgeschlossenen Peri­oden" geschrieben werden. Fast möchten wir im Sinne jenes Paradoxons Droysensdie Geschichte hat sich nur mit dem zu beschäftigen, was lebendig ist" das Gegenteil behaupten: nur solche Perioden könnten mit wirklichem Einfühlen und Mitfühlen dargestellt werden, die noch wirksam sind. Hätte ich nicht mit­fühlende Freude an dem Ringen gerade der Gegenwart- ich hätte dies Bnch wohl ungeschrieben gelassen. Aber das ist klar, daß hier eben dem Fühlen, dem Raten sogar Raum gestattet werden muß. Ich wenigstens habe nicht, wie vielleicht der oder jener litte­rarische Kritiker, das Gefühl, hoch über der Arbeit des Tages zu stehen ich fühle mich mitten inne im Gedränge. Und deshalb darf man nicht verlangen, daß ich die Trennungen und Berührungen der Gruppen so klar übersehe, wie es erst möglich sein kann, wenn vieles sichausgelebt" hat, was jetzt noch jung ist. Ganz naiv muß man hier nachzeichnen dürfen, wie die Primitiven: die Per­spektive steckt erst in den Anfängen. Manche Figur, die auf dem zweiten Plan steht, wird bei uns noch mit Gestalten des Vorder­grundes gleiche Höhe haben. Licht und Schatten können wir noch nicht fein abtönen. Aber wir suchen zu erzählen, was wir erleben; das ist immer etwas.