Neuntes Kapitel.
1660—1990.
Je näher wir der Gegenwart kommen, desto schwieriger wirdes, die Lineamente zu enträtseln. Goethe schreibt einmal an Schiller,nachdem er ihm von der Aufnahme des Fanstplans berichtet: nun seier begierig, zu sehen, wie der Freund ihm seine Träume deuten werde.Können wir hier mehr als Träume deuten? Träume, die vielfachnur Schäume sein werden, oft aber anch Abspiegelungen und Vor-boten der Wirklichkeit? Nicht daß wir an jener alten Lehre fest-hielten, Litteraturgeschichte könne nur von „abgeschlossenen Peri-oden" geschrieben werden. Fast möchten wir im Sinne jenesParadoxons Droysens — „die Geschichte hat sich nur mit dem zubeschäftigen, was lebendig ist" — das Gegenteil behaupten: nursolche Perioden könnten mit wirklichem Einfühlen und Mitfühlendargestellt werden, die noch wirksam sind. Hätte ich nicht mit-fühlende Freude an dem Ringen gerade der Gegenwart —- ichhätte dies Bnch wohl ungeschrieben gelassen. Aber das ist klar,daß hier eben dem Fühlen, dem Raten sogar Raum gestattet werdenmuß. Ich wenigstens habe nicht, wie vielleicht der oder jener litte-rarische Kritiker, das Gefühl, hoch über der Arbeit des Tages zustehen — ich fühle mich mitten inne im Gedränge. Und deshalbdarf man nicht verlangen, daß ich die Trennungen und Berührungender Gruppen so klar übersehe, wie es erst möglich sein kann, wennvieles sich „ausgelebt" hat, was jetzt noch jung ist. Ganz naivmuß man hier nachzeichnen dürfen, wie die Primitiven: die Per-spektive steckt erst in den Anfängen. Manche Figur, die auf demzweiten Plan steht, wird bei uns noch mit Gestalten des Vorder-grundes gleiche Höhe haben. Licht und Schatten können wir nochnicht fein abtönen. Aber wir suchen zu erzählen, was wir erleben;das ist immer etwas.