KinLeitung.
Wie ein ungeheurer, mit jedem Tage breiterer Strom fließt dieLitteratur der Kulturvölker einher. Wer es sich vergegenwärtigt, welcheMassen von Dichtung und Prosa ein jeglicher Tag neu ans Lichtbringt, den mag wohl ein bedrückendes Gefühl erfassen. Nichteine Seite in diesem papierenen Meer, für die ihr Verfasser nichtaufmerksame Leser, entschiedenen Erfolg, vielleicht dauernde Wirkungerhofft hätte. Und was bleibt? Einige wenige Namen — undverschwindend wenig lebendige, anschauliche Kenntnis von Werkenoder Persönlichkeiten!
Die Litteraturgeschichte der romanischen Völker rechnet mit derThatsache dieser engen Auswahl. Tausend Autoren und zehn-tausend Werke schiebt sie beiseite; sie sind ihr nur das Lehrgeld,das die Nation daran wandte, um einen Molisre zu erziehen oderVictor Hugos Gedichte zu zeitigen. Aber die deutsche Litteratur-geschichte denkt milder und, scheint es nns, auch gerechter. EigenesRecht spricht sie jeder wirklichen Kraft zu, auch wenn sie nicht zumhöchsten Ziel gelangte. In jenem ungeheueren Strom der litterarischenProduktion erblickt sie vor allem ein Zeugnis unendlichen Strebens.Was zuerst niederdrückend wirkt, wird erhebend: Tausende sehen wirunermüdlich ringen, sehen wir über das kümmerliche Alltagslebenhinweg der Unterredung mit zukünftigen Freunden entgegenftreben.Der große Maun, den wir erst in einsamer Höhe sahen, ist nunfür unser Auge nicht länger allen übrigen ein Vorwurf: zahlreichhaben seine Zeitgenossen sich bemüht, ihm nahe zu kommen. Giltdies Streben nichts, selbst wo es verunglückt? „Wir sind nichts",sagt Hölderlins ernstes Wort — „was wir wollen, ist alles."
Und doch — welche Fülle von Kraft, von Talenten, vonErnst und von mindestens innerem Erfolg zeigen bei liebevollererPrüfung auch diese „Kleineren"! Es ist doch nichts Geringes, unter
Mcycr, Litteratur. 1