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Francesco Barbaro : Früh-Humanismus und Staatskunst in Venedig / Percy Gothein
Entstehung
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EINLEITUNG

Schon seit langer Zeit hat man beobachtet, wie auffallend sich mitwechselnden Grundanschauungen das Blickfeld geschichtlicher Betrach-tung ändert, wie einzelne Gestalten oder ganze soziale und politischeZusammenhänge vorzüglich die Anteilnahme der Geschichtsforscher aufsich zogen, während andere ein minderes Interesse erregten, dann aberfür das nächstfolgende Zeitalter plötzlich an Bedeutung gewannen. Dies,so scheint uns, hat sich mit Francesco Barbaro zugetragen. Nachdemdas XIX. Jahrhundert fast nur die Gestalt der tragisch und vereinzeltaufragenden Persönlichkeit herausstellte, sofern es nicht überhaupt dieBedeutung des großen Menschen im Ablauf der Geschichte bestritt,beginnen wir heute wieder, uns mit neuem Verstehen den für ein Volkoder eine Gemeinschaft stellvertretenden typischen Erscheinungenzuzuwenden: wir schätzen andere Eigenschaften an unsern Ahnen. Derjungen Generation ist es nicht mehr wichtig, die Phantasie an aben-teuerlichen Schicksalen und maßlosem Planen zu erhitzen, sie späht inder Vergangenheit nach Vorbildern einer ihr gemäßen Haltung auszur Bewältigung der realen menschlichen und staatlichen Aufgaben.Nicht alle, die der vom XIX. Jahrhundert aufgestellte Kanon als großeMänner pries, haben die ihnen zugeschriebene Bedeutung auf die Dauerbehalten, und auf der andern Seite gilt es, ungerechtes Übergehenwieder gutzumachen. So ist es mit der einseitigen Bevorzugung vonFlorenz vor der Schwesterstadt Venedig. Freilich lassen sich die Persön-lichkeiten, die aus der Stadt am Arno hervorgegangen sind, leichtergewahren; aber gab es darum in der Lagunenstadt keine großenGestalten ? Hält man freilich für das Ausschlaggebende des Persönlich-keitsbegrifFes die einzelstehende Individualität, die nicht ihresgleichenhat, so mußte die Frage, wie es auch wirklich lange geschehen ist,verneint werden, denn auch die bedeutenden venezianischen Gestalten