EINLEITUNG
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um die Wende des XIV. zum XV. Jahrhundert grell von der Unruheringsum in Europa abstach. Die venezianische Währung, der Dukaten,wurde überall anerkannt, nirgendwo anders erfaßte eine so genaueStatistik das bürgerliche Leben wie hier. Vom Jahre 1400 laufen, imArchive erhalten, Listen, die uns über alle privaten und öffentlichen Ver-hältnisse der Venezianer jeden nur gewünschten Aufschluß geben. So istbegreiflich, daß bisher die Historiker an Venedig vor allem die eigen-tümliche Stadt- und Verfassungsgeschichte beschäftigte 1 . Wie kommt manaber dem venezianischen Menschen, der den Wunderbau seines Staatesum sich errichtet hat, bei? Durch soziologische Betrachtungsweise, dieihr Augenmerk nur auf die Verhältnisse der Menschen untereinanderrichtet, tritt er nicht als einzelner in Erscheinung, die individualistischeHeroengeschichtsschreibung aber weiß nicht, wen sie herausgreifen soll.Um den typischen Venezianer zu erkennen, müssen andere Wege ein-geschlagen werden. Wir wollen jedoch nicht einen Absud aus vielenBürgern dieser Stadt als den typischen Venezianer gelten lassen, wie mansich vergeblich bemüht hat, auf diese Weise den gotischen oder denmittelalterlichen Menschen herauszuschälen. Wir wollen auch nicht dasNormale, sondern die Norm des Venezianers finden. Die Norm aberunterscheidet sich deutlich vom Idealtypus, denn seinem Begriffe nachist das Ideal nie erreichbar, während die Norm das höchste erreichbareMaß anzeigt. Die Eigenart Venedigs kommt dieser Betrachtungsweiseentgegen. Für Heldenverehrung des einzelnen, wie sie sonst in jenemJahrhundert des Wiederaufblühens in Italien wohl zu finden ist, bietetes keinen günstigen Boden. Als Adelsrepublik wollte es nicht wie dieFürstentümer in eine selbstherrliche Spitze auslaufen — ist der Dogeauch scheinbar der Fürst dieses Staates, so war ihm doch keine wirk-liche Macht belassen. Wie die Stadt im täglichen Wandel staatsgefähr-denden Ehrgeiz zügelte, so Heß sie auch das Lob ihrer Mitbürger nurin gedämpfter, zurückhaltender Vornehmheit nach außen dringen. Hierwar für überlebensgroße, sprengende Genien kein Boden bereitet, aberder Raum, der den Menschen dieses Bereiches zugemessen war, war weitgenug für ebenmäßiges Wachstum und die Entfaltung in jener eigen-tümlich venezianischen Prägung. So ist es nicht nur der Geist, der imvenezianischen Staate gründend und erhaltend wirkt, ihn stützt eine