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Francesco Barbaro : Früh-Humanismus und Staatskunst in Venedig / Percy Gothein
Entstehung
Seite
99
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FREUNDESBRIEF AN LORENZO DE'MEDICI IOI

Kameraden erwählen. Ein Brief nach der ersten Trennung der Freundegibt uns am besten über den Charakter und die Erlebnisstärke dieserJünglinge Aufschluß: «Welch große Sehnsucht ich jetzt nach dir em-pfinde,* schreibt Francesco gleich nach seiner Rückkehr nach Venedig imJahre 1414 2 , «wirst du bei deiner einzigartigen Klugheit leichter ermessenkönnen, als ich es schreiben kann, wenn du nur daraufhast achten wollen,wie sehr ich an deinem Umgang Gefallen fand. Denn du kannst der besteZeuge sein: hier am Orte lebte eine große Anzahl Menschen, deren Wesen,Menschlichkeit und Bildung mir in recht hohem Maße teuer war unddoch hat es niemanden gegeben, mit dem ich Heber zusammen wäre alsmit dir. Ein so herrliches Bild von deinem Ingenium und deinem Charak-ter hatte ich mir gemacht, daß das Urteil der bedeutendsten und klügstenLeute von der von mir gefaßten Meinung nicht abweichen konnte.Deinem Wesen ist so viel gegeben, des ward ich inne, daß man esschon an sich für bedeutend und wohlgesittet halten mußte; zeigt sichdoch seine Würde so allerseits gefestigt und ausgeprägt, daß man sieruhig, sozusagen im Licht der Rechtschaffenheit und Tugend betrachtenkönnte. Dazu kommt, daß du alles,was einem Angenehmes aus der Liebens-würdigkeit, Menschlichkeit und Gewogenheit eines andern widerfahrenkann, so umsichtig und eifrig über mich ausgeschüttet hast, daß mich nichtallein dessen Genuß, sondern auch noch die Erinnerung daran höchstfreudig stimmt. So geschah's, daß ich in deine Gunst nicht blindlingshineinstolperte, sondern in sie einging. Und so sehr werde ich in Liebefester an dich geschmiedet, daß es mir künftig das Allerteuerste und Aller-wichtigste sein wird, dir nichts von dem schuldig zu bleiben, was offenbarzur Pflicht und Neigung, zur Ehrfurcht, Dankbarkeit und Treue demteuersten Menschen gegenüber gehört. Darum muß es dir durchsichtigklar sein, daß ich von der Sehnsucht nach dir (soweit es sich ziemt) durch-schüttelt werde. In dieser Bedrängnis widerfährt mir jedoch die eine Lust,daß ich in der Zwiesprache (des Briefwechsels), die wir uns zu vertrau-tem, beständigem Umgang vorgenommen haben, und im Gedenken andich (in dem ich mit innigster und unwandelbarer Zuneigung beharre)wie in ehrender und süßester Zuflucht Ruhe finde. Wenn ich nun überdiese zunächst gegensätzlichen Gefühle oft und gründlich nachdenke,pflegt mir Sokrates in den Sinn zu kommen. Dieser äußerte nämlich im