Briefwechsel mit der Braut.
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Am folgenden Tag, 7. November schreibe ich:
„Dienstag Abend*). Liebe Anna. Wenn nicht auf dem be-sonderen Felde, auf dem unsere Korrespondenz wächst, derMystizismus etwas verfänglich Lächerliches hätte, so möchte ichmich aus einen Traktat über die sympathetischen Beziehungenzwischen räumlich getrennten Menschen einlassen: denn es hatmich am Samstag und Sonntag eine Sehnsucht nach Dir, Liebe,verfolgt, deren Gegenstück zu meiner höchsten Freude, ich darfnach Deinen letzten Briefen sagen: zu meiner süßen Überraschung,aus Deinem gestern eingetroffenen Schreiben mich umwehte. Wieich überhaupt dann mit dem heftigsten Verlangen an Dich denke,wenn ich am meisten in lebhafter Thätigkeit nach außen absorbiertbin; so überfiel mich schon aus dem Rückweg von Berlin undnoch mehr nach Deiner Ankunft die süßwehmütige Begehrnis, beiDir zu sein. Je anregender, nnd vollends je geräusch- und be-wegungsvoller mein politisches Treiben ist, desto mehr ruft esjedesmal in mir die Notwendigkeit hervor, daß ich mich in mirselber, daß ich den eigentlichen, den Privatmenschen wiederfinde;und den habe ich nirgends, nirgends auf der Welt, als bei Dir.Wie wahr, wie sehr aus der innersten Natur entsprossen immereine Thätigkeit sei, wie die meinige, das Bewegen im öffent-lichen Leben hat immer und seiner notwendigen Form nach etwasGemachtes, Pathetisches, und weckt in jedem vor sich selber auf-richtigen Menschen das Bedürfnis, in sich selbst zurückzukehren.Aber dieses echte Selbst kann nicht der bestimmungslose Jn-disferenzpnnkt des nackten Ich sein. Ein solches von der Welt,von allen Bestimmungen des Daseins abstrahiertes Ich giebt esnicht; selbst der abgeschmackteste christliche Einsiedler oder derbüßende Inder findet es nur in der Bestimmtheit durch dieNatur oder die Religion; der wahre Mensch findet es in der
Nur die wenigsten der Briefe tragen ein Datum von Monat undJahr. Diese profanen Bezeichnungen werden in solchen Stimmungen regel-mäßig verschmäht — ein sehr verwerflicher Usus für späteren Gebrauch.Aber wer deukt iu solchen Momenten an den, der nach achtundvierzigJahren das Datum feststellen möchte. Glücklicherweise kannte man damalsden fertigen Briefumschlag »och nicht, und die letzte Briefseite trägt anfihrem Rücken die Adresse und deu Poststempel .