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Sechstes Kapitel.
Vorteil verspreche, aber eben darum seinen jungen Zögling ver-nachlässigen und allen Verführungen des französischen Babylonpreisgeben werde.
Als der Vater sich nicht abwendig machen lassen wollte, legteseine Mntter förmlich Protest ein, mit dem Hinzufügen: falls er ihrnicht gehorche, dürfe er ihr nie mehr unter die Augen kommen.Und so geschah's. Sie lebte etwa noch fünfzehn Jahre, und alleVersuche des Sohnes zur Versöhnung waren vergebens. Als sieauf dem Sterbebette lag, befand er sich im Nebenzimmer, aber sieerlaubte nicht, daß er eintrete. Und mit einer ihrer Töchter, dieebenfalls in einer, nur sie, die verheiratete Tochter, angehendenSache nicht ihrer Vorschrift sich anbequemte, hielt sie es ebenso,ja sie verordnete noch testamentarisch, diese Tochter solle keineTrauerkleider um sie tragen. Dabei war sie in allen, mit ihrenAnsichten übereinstimmenden Aufgaben des Lebens eine hingebendeMutter, und von ihren Kindern aufs innigste verehrt.
Für die Art ihres Denkens ist folgende kleine Geschichte höchstbezeichnend. Ihre beiden Knaben hatten Unterricht im Rechnenbei einem Lehrer namens Weismann. Eines Tags erzählte ihreine Bekannte, um ihr eine Freude zu machen, der Lehrer habedie mathematischen Anlagen der Söhne über die Maßen gelobt. —„Ach", erwiderte sie mit verächtlichem Achselzucken, „was geb ichauf Weismanns Rechenkunst, wenn der sich um zehntausendGulden in seiner Rechnung irrt, wer merkt's?"
Dabei war die in der Praxis des Lebens harte und nüchterneFrau in der Abstraktion nicht frei von Sentimentalität. Sie lasviel Romane und vergoß oft heiße Thränen darüber. Aber als siedie Memoiren von Las Cafes las, ließ sie sich durch die Schilde-rung des Exils von St. Helena nicht erweichen, meinte vielmehr,Napoleon habe sein Schicksal wohl verdient.
Ich sehe sie noch vor mir, wie sie ihre Briefe, meistens anihre beiden in Holland und Belgien wohnenden Söhne schrieb,stehend an einem sogenannten Kannitz, dessen horizontal auf-geschlagene Platte, für normale Größe znm Sitzen berechnet, ihrso hoch hinausging, daß sie eben stehend daran schreiben konnte.Sie ging dabei mit der Feder in der Hand zwischen einem Satz