Sechstes Kapitel.
der Vulgarität des Auftretens zuschreiben, denn die deutsch-polnischen Elemente der Juden standen zwar auf einer sehrniedrigen Stufe, aber die Abkömmlinge der portugiesischen Ein-wanderung, welcher Spinoza angehört hatte, hielten sich sehr vor-nehm und suchten ihrem adligen Namen Ehre zu machen. DieSpaltung war um so ausfallender, als nach dem Gesetz schondamals in Holland nicht nur völlige Rechtsgleichheit dem Buch-staben nach galt, sondern auch praktische Anwendung fand. EinJude, Godefroi, wurde sogar Justizminister, und in der Armeegab es jüdische Offiziere.
Die Erklärung lag wohl zum Teil in der beiderseitigenFrömmigkeit. Protestanten und Juden identifizierten sich der-maßen mit ihren religiösen Gefühlen, daß sie es für ganz natür-lich hielten, jeder in seinem Lager zu bleiben. Diese Beschränkt-heit trug noch das ihrige dazu bei, mir den Aufenthalt in Holland leidig zu machen.
Als ich nach Frankreich kam, atmete ich auf. Dort wußteman damals von diesem Gegensatz überhaupt nichts; man konntejahrelang nnter Familien verkehren, ohne daß nach der Kon-fession gefragt wurde. Das Wort Antisemitismus war zu jenerZeit noch nicht in Deutschland erfunden, und von Deutschland aus über die Welt verbreitet worden.
Als ich später nach Deutschland zurückkam, war ich derSache so fremd, daß ich mich ganz naiv zu ihr verhielt, und dergroße Zug der politischen Bewegung vom Ende der sechsziger undAnfang der siebziger Jahre hob die Stimmung über das Gemeinehinweg. Erst nach der Mitte der siebziger Jahre, als der Windvon oben nach der Reaktion umschlug, in Verbindung mit demRückschlag der Gründerzeit, drängte sich mir auch im Schoßemeiner eigenen Partei der Anfang der Bewegung auf, und ichfing an, aus meiner Naivetät herauszukommen. Doch bliebenmir die schlimmsten Erfahrungen noch vorbehalten.
Mein Trost blieb in Rotterdam , wie überall, die Lektüre inmeinen freien Stunden. Zu den glücklichsten vor meiner Ver-ehelichnng in Rotterdam rechne ich die, in denen ich des Abendsund des Sonntags Gntzkows neun Bände „die Ritter vom Geiste"