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Erinnerungen / von Ludwig Bamberger
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Paris .

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Zch muß übrigens sagen, daß ich während der fünfzehn inFrankreich verlebten Jahre die Rechtsprechung als regelmäßigerLeser derGazette des Tribunaux" sehr aufmerksam verfolgt habeund mir wenige verdächtige Entscheidungen aufgefallen sind, wasallerdings nicht sehr viel beweist, weil in diesen Publikationennur hervorstechende Fälle zur Kenntnis kommen.

Der Brauch, dem Nichter seinen Besuch zu machen, giltnicht für ganz Frankreich ohne Unterschied. In einer ganzbedeutenden Anzahl von Gerichtssprengeln ist er unbekannt,und selbst da, wo er durch alte Tradition geheiligt ist, wie inParis , entzieht er sich der Kenntnis der nicht mit den Tribunalenverkehrenden Kreise. Noch vor wenigen Jahren geschah es mir,daß ich der Sache einem von Jugend an in Paris ansässigenGelehrten erwähnte. Er hielt das für eine deutsche Verdächtigungund bestritt aufs heftigste die Möglichkeit einer solchen Praxis.Ich bat ihn, sein Urteil zu vertagen und erst bei einem Nechts-anwalt sich zu erkundigen. Nach einigen Tagen kam er betrübtmit der entdeckten Wahrheit zurück.

In RacinesPlaideurs" ist dem alten Herkommen einDenkmal errichtet, und es fehlt nicht an illustrierenden Anekdoten,die gewiß nicht buchstäblich zu nehmen sind. Eine sehr hübscheerzählte mir ein befreundeter Advokat und Deputierter einesTages als ein ebeu Geschehenes. Der Präsident einer Zivil-kammer hatte das ergangene Urteil nach Vorschrift in deröffentlichen Sitzung zn verkünden. Er war selbst Referent in derSache und hatte im Drang der Geschäfte die Sache nur mitflüchtigen Notizen vorbereitet. Der Advokat der einen Parteifolgt mit großer Befriedigung der Verlesung der Motive, welchemit der bekannten Formel attenclu czus dem Urteilsspruch, demsogenantenvisxositik«, vorhergeht. Die ganze Reihe dieser Er-wägungsgründe,Lonsiciörlmts" genannt, wickelt sich siegreich zuGunsten seines Klienten ab; dann kommt der Urteilsspruch, undsiehe da: er hat verloren! Nicht möglich, hier muß ein Irrtumgeschehen sein. Er will protestieren, aber die Ordnung erlanbtdas nicht; er muß das Unbegreifliche über sich ergehen lassen. Ingroßer Aufregung wartet er den Schlnß der Sitzung ab. Dannstürmt er zum Präsidenten in dessen Kabinet. Sein Protest war