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Erinnerungen / von Ludwig Bamberger
Entstehung
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Achtes Kapitel.

gezeigt hätte, welches drei Jahrzehnte später mir vor Augenstehen würde, den hätte ich für hirnverbrannt gehalten. Wer wirdamals gesagt hätte, es werde die Zeit kommen, wo man mirnachsagen würde, ich verträte französische Interessen, oder persön-liche Vorteile, oder gar jüdische Ausfassung in deutschen An-gelegenheiten!

Es bleibt immer etwas Rätselhaftes, wie von einer Generationzur folgenden und dabei vielfach in denselben Individuen solcheGegensätze zum Durchbruch kommen können. Am ersten ist dieErklärung darin zu suchen, daß mit dem Wechsel der Zeiten die ton-angebenden Sphären wechseln, und daß die jeweil Tonangebendendie übrigen mit sich fortziehen.

Während der in Baden verbrachten Wochen hatte ich Ge-legenheit, mich über die Möglichkeit, ohne Belästigung auch dasübrige Deutschland zu besuchen, aufzuklären, und da das Ergebnisgünstig lautete, so beschloß ich noch eine kurze Rundreise nord-wärts zu wagen, auf der mich meine Frau begleitete.

Unser erstes Ziel war Gotha, wo unser Ludwig Walesrode wartete, mit dem ich bis dahin in Sachen der demokratischenStudien nur in schriftlichem Verkehr gestanden hatte. Dochkonnte ich mir nicht versagen, aus dem Wege dahin in GießenHalt zu machen.

Er reizte mich, den Ort, an dem ich die ersten anderthalbJahre meiner Studienzeit in eigentümlicher und zugleich in be-stimmender Weise für meine eigne künftige Geistesrichtung zu-gebrach thatte, wiederzusehen. Ich beschloß also, dort zu übernachten.

Zwanzig Jahre lagen dazwischen; in mir und um mich warvieles anders geworden, aber im Gasthof zum Einhorn, in demich ehemals mein Mittagbrot eingenommen hatte, war außer deminzwischen verstorbenen Personal nichts verändert. Auch der Platz,auf dem der Gasthof steht, Lindenplatz genannt, sah noch ganzso armselig aus wie damals; in derselben Ecke stand auch nochdieselbe Karre mit derselben Kuh bespannt, zwar die Individuender Karre uud der Kuh waren erneuert, aber nicht die Spezies.Ob die Matratze im Bett des Hotels, wenn sie den Namenverdient, erneuert worden war, wage ich nicht zu entscheiden.