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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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I. Das Erbe,

beurteilen wollten, den wir vom Gegenstände haben. Diese Voll-kommenheit findet sich in der Natur nicht, wenigstens nie rein,selbst nicht im Menschen, als dem vollkommensten Geschöpf. Fastjeder Mensch besitze einige schöne Teile, die mit der Nützlichkeitund Ursache ihres Seins vollkommen übereinstimmen, aber dieZufälle des Lebens stören die Einheit. Aufgabe der Kunst ist,diese schönen Teile zu suchen und zu einem Ganzen zu vereiueu.Die Kunst ist schwach gegenüber der Natur in Nachahmung vonLicht und Finsternis, sie ist der Natnr überlegen durch die Schön-heit. Im Schauplatze der Natur kann sie die Schönheit vonvielerlei Menschen sammeln, während die Natur die Menschen miraus einer Mutter gebäre. Alle Vollkommenheiten können auf eineGestalt vereint werden: Einförmigkeit im Umrisse, Größe in derGestalt, Freiheit in der Stellung, Schönheit in den Gliedern,Macht in der Brust, Leichtigkeit in den Beinen, Stärke in denSchultern und Armen, Ausrichtigkeit in der Stirne nnd den Augen-brauen, Verminst zwischen den Augen, Gesundheit in den Backen,Lieblichkeit im Munde. Wie in keiner Blume der Honig ist, dendie Biene doch aus allen zusammenträgt, so solle der Künstleraus der Natur durch eine angemessene Ordnung eine größere Süßig-keit zuwege bringen, indem er das Unnütze und Unbedeutende aus-lasse. So haben die Alten gehandelt. Man solle nicht glanben,daß durch sie die höchste Staffel schon besetzt sei. Niemand vonden Neuern ist auf dem Wege der Vollkommenheit der alten Griechengegangen, fondern man habe sich mit dem Wahren und Gefälligenbegnügt. Mengs ruft unn aber die Künstler auf, diese Vorzügemit der Schönheit zn vereinigen, sich nicht dadurch abschrecken zulassen, daß airdere groß waren, sondern sich an ihrer Größe zuerhitzen, mit ihnen zu streiten, denn es bleibe dann immer nochEhre, von ihnen überwunden zu sein.

Es ist ja immerhin ein Zeichen der Zeit, daß sie mit Winckel-mann im Laokoon stille Größe und edle Einfalt sah, daß sie die Knnstdes Bildners darin fand, den Schmerz nicht im Aufschrei, sonderndurch die Größe der Seele des Leidenden gemildert dargestellt zu haben.Sie stand im Kampf gegen eine Bildnerei, welche nicht zn kleinemTeil am selben Laokoon und ähnlichen spätgriechischen Gruppen